Zwischen dem Mittel-und dem Hinterrhein liegen noch mehrere, von anderen Ästen des Adula gebildete Täler: das Somvixer Tal, das Lugnezertal, aus welchem der Glenner bei Ilanz, der ersten Stadt am Rhein, dem Vorderrhein zufällt, und Safien, »das Land schöner Weiden«, dessen Großer Rabiusa genannter Bach durch das Versamtobel in das gleiche Bett sich ergießt.
Östlicher und südlicher als die genannten Bergwasser entquillt der Hinterrhein, die mächtigste Wurzel des Stroms. Unter dem ungeheuren Mantel des Rheinwaldgletschers verbirgt er unerschöpfliche Quellen. Zwölf Bäche durchbrechen die Eismassen dieses acht Stunden langen Gletschers, um sich in weiten Bogen in einen tiefen Schlund zu stürzen. Außer ihm sind der Hinterrhein-und der Moschelhorngletscher die bedeutendsten dieses Tales. Paradies und Hölle grenzen hier nahe aneinander. Jenen Namen führt nämlich eine Gegend bei dem Dorf Hinterrhein, die nur aus Schneefeldern und Felsblöcken besteht; diesen ein daneben befindlicher bodenloser Abgrund.
Von den Felsenhörnern, die das Rheinwaldtal von allen Seiten einschließen, erheben sich einige mehr als 10 000 Fuß über das Mittelländische Meer. Das Tambohorn jenseits des Splügen wird vom Dom zu Mailand aus gesehen. Es selber gewährt denen, die es zu ersteigen wagen, eine unermeßliche Aussicht. Von diesen ewigen Firnen stürzen sich unaufhörlich Lawinen auf die Gletscher herab, deren wohl vierzig das Rheinwaldhorn umstarren.
Vor meiner Reise nach der Schweiz hatte ich ganz unrichtige Vorstellungen von Gletschern sowohl als von Lawinen. Ich finde, daß es anderen auch nicht besser ergeht. Solche Begriffe werden von Schriftstellern verbreitet, die nie die Regionen des ewigen Schnees betreten haben. Gletscher dachte ich mir als himmelhohe Eisberge, von welchen ich die Lawinen herabrollen, nicht herabstürzen ließ. Von dem Bezug beider auf die Bildung der Ströme hatte ich keine Ahnung. Ein Gletscher ist aber kein Eisberg, sondern ein abschüssiges Tal, eine Schlucht zwischen zwei schneebedeckten Gebirgen. Die Lawinen kommen nicht von den Gletschern, umgekehrt sind es gerade die Gletscher, auf welche die Lawinen sich niederzustürzen pflegen. Leider wandeln sie oft ungewohnte Wege und richten dann jene furchtbaren Zerstörungen an, durch die sie der Schrecken der Alpenbewohner sind.
Ebenso falsch ist die Vorstellung, als ob die Lawinen sich beim Niedersturz gleich Bällen oder Kugeln um ihre eigene Achse drehten. Ihre Fortbewegung ist mehr ein Rutschen als ein Rollen. Wir können etwas Ähnliches in unserer Heimat beobachten, wenn im Winter beim Eintritt gelinderer Witterung der Schnee auf hohen Turmdächern sich löst und hinabgleitet, wo auch der tiefer liegende weggeschoben, nicht aufgerollt wird. Sitzt der untere noch festgefroren auf dem Dach, so schabt ihn der obere im Hinabrutschen fort, wodurch die im Fall begriffene Masse sich häuft und an Volumen wie an Geschwindigkeit zunimmt. Die Erscheinung bleibt die nämliche, nur ist sie größer und furchtbarer, wenn sie sich auf den steilen Abhängen der Hochgebirge begibt. Dann verkündet ein donnerähnliches, dumpfes Getöse das Naturereignis, und der Druck der Luft ist so heftig, daß er allein hinreicht, Häuser und Bäume niederzubrechen, Menschen und Vieh zu ersticken. Viel größer noch ist die unmittelbare Wirkung, die Dörfer und Wälder fortreißen, Ströme verstopfen und, wie es vom Glauben heißt, Berge versetzen kann. So begab es sich mit dem Dorf Rueras, das nicht weit von Ciamut im Tavetscher Tal liegt, wenige Stunden von der Quelle des Vorderrheins, daß es von einer Lawine fortgeschoben wurde, und zwar zum Teil so sanft, daß die Einwohner am Morgen nicht begriffen, warum der Tag anzubrechen säume. Die Verschütteten wurden meist lebend hervorgegraben. Wenn die Lawinen rollend, nicht gleitend sich fortbewegen würden, so würden die guten Bewohner von Rueras durch den Umschwung wohl unsanfter geweckt und nicht so zahlreich gerettet worden sein.
Gletscher sind Eisströme, die sich in Bergspalten zwischen ewigen Schnee niedersenken. Dem Auge als erstarrte Flüsse von starkem Gefälle sich darstellend, beginnen sie bei der Schneelinie und steigen allmählich herab zu den Wohnungen der Menschen. Nichts reizt darum so sehr zum Nachdenken als der Anblick der Gletscher. War dies ursprünglich flüssiges Element, was brachte es plötzlich zum Erstarren? Und war es von Anfang an starr, wie geriet es in Fluß?
In der Talrinne zwischen hochragenden Felshörnern sammelte sich der von ihnen niederfallende Schnee, sei es, daß ihn Sturmwinde anhäuften, oder daß er in Lawinen niederstürzte. Diese Schneemasse verwandelte sich, indem sie das Tal niederglitt, in Eis, zum Teil auch in Wasser, das, von jenem bedeckt, nur durch die Spalten und Schrunde des Eisgewölbes noch gesehen und gehört wird. Die Umwandlung des Schnees in Eis begab sich allmählich durch Auftauen und Wiedergefrieren. Von oben wirkte die Sonnenhitze, von unten und von den Seiten die Erdwärme. Der Schnee begann zu schmelzen; aber von der Nachtkälte ergriffen, gefror er. So bildeten sich Eispaläste, die von niemand als von dem Flußgott bewohnt werden, der unten aus der kristallenen, smaragdgrünen Grotte den fertigen Strom entläßt. Ist dies die Urne, welche die Alten ihren schilfgekrönten Graubärten von Flußgöttern in die Arme gaben?
Die Gletscher, unerschöpfliche Quellen der Flüsse, können selbst schon als deren Anfänge betrachtet werden. Wir nannten sie Eisströme, denn sie sind, wenn auch unmerklich, im Strömen, im Fortrücken begriffen. Die obere Masse, die beständig neuen Zuwachs erhält, drückt auf die tiefer liegende, bis die unterste Stütze, an der Erdfläche geschmolzen und vom Wasser unterfressen, zusammenbricht, worauf mit krachendem Getöse der ganze Gletscher durch seine eigene Schwere fortgeschoben wird. Eine Reihe von Jahren mag aber darüber hingehen, bis die Eismassen, aus denen der heutige Rheinwaldgletscher besteht, geschmolzen das Rheintal hinabflossen und aus den Lawinen des Adula ein neuer, dem heutigen vielleicht sehr unähnlicher Gletscher hervorging.
Graubünden
Rätien hieß das Land, ehe es durch den in den obersten Rheintälern gestifteten Grauen Bund den heutigen Namen erhielt. Auch Graubünden hat seine Telle usw., ihre Namen sind nicht zu gleicher Berühmtheit gelangt; nicht um Ruhm ja traten sie zusammen, sondern für ihr Volk, und dieses erfreut sich noch heute der von ihnen gegründeten Freiheit. Die Geschichte könnte die Namen ganz entbehren, viele Wohltäter des Menschengeschlechts nennt sie nicht; die Sage ist dankbarer, sie behält uralte ehrwürdige, der Geschichte entfallene Namen, und im Fall der Not setzt sie den einen statt des andern. Oft aber borgt die Geschichte, die ärmere Schwester, von der Sage, bis die Kritik hinzutritt und jeder ihr Eigentum wieder zuweist. So hat man neuerdings Tells Apfelschuß aus der Geschichte in die Sage verwiesen, ja selbst Tells wie Geßlers Dasein geleugnet. Wenn aber die Sage aus lebendiger Anschauung den Sohn der Alpen schildert, wie er das Leben täglich für sich und andere wagt und doch der Dränger Unbill langmütig erträgt und nur, wenn er aufs Äußerste gebracht wird, zu dem sicher treffenden Pfeil greift, ist das nicht auch Geschichte?
Aber leugne man nur die Telle, die Eidgenossenschaft freier Schweizer bleibt eine unleugbare Tatsache. So möge auch Graubündens Freiheit noch blühen, wenn einst der Dolch der Kritik die Namen der Männer getroffen hat, die zu ihrer Gründung den ersten Anlaß gaben.
Der Geist der Freiheit weht am ganzen Rhein, von den Quellen zu den Mündungen: der Schweizer ist nicht freier als der Friese; beide nicht freigesinnter als die zwischen ihnen im Rheintal wohnenden Völker. Aber in der Schweiz und in Rätien waren die Landvögte und Kastellane früher bedacht, das Volk zu drücken und zu drängen, bis der lang gesponnene Faden seiner Geduld entzweiriß.
Im Schamser Tal, dem der kaum entsprungene Hinterrhein