»Fremde Männer kommen mir nicht ins Haus, meine liebe Adina! Im rechten Schrankteil unten sind Kuscheldecken, die Heizung kann man höher drehen. Und hol dir einfach einen Schlafanzug. Die Negligés sehen zwar schön aus, aber sie wärmen nicht. Und wenn ich eh nicht da bin, musst du auch nicht schön aussehen!«
Adina verdrehte die Augen. »Männer-Egoismus? Ich brauche das für mich persönlich! Aber du hast recht. Vielleicht finde ich einen Schlafanzug, der meinen Ansprüchen genügt und erzgebirgskonform ist. Ich werde es zumindest versuchen.«
Obwohl beide neugierig auf ihre neuen Aufgaben waren, durchzog Olis Wohnung am Wochenende eher ein Hauch von Trägheit. Nach und nach wurde klar, dass ihre sehr junge Beziehung einer ersten Belastungsprobe entgegenging. Adina wusch Wäsche. Oli begann, seine Reisetasche zu packen.
»Wo wirst du in Dresden wohnen?«
»Die Polizei hat ein paar kleine Apartments in der Neustadt. Ich werde eines davon beziehen. Ich denke, es ist Platz für dich, wenn du in der Nähe zu tun hast. Zumindest, wenn du allein unterwegs bis. Mit Mia oder einer anderen Begleitung im Gefolge wird es schwierig. Und am Wochenende bin ich wieder da. Wir schaukeln das schon. Es ist ja nicht für immer.«
Den Montag verbrachte Adina am Computer. Sie plante drei Tage in Chemnitz. Am Freitag stand die Aufarbeitung der gewonnenen Erkenntnisse am Computer an. Dann würde sie sehen, ob sie mehr Zeit brauchte. Sie schrieb eine E-Mail an die Jüdische Gemeinde, um ein Treffen zu vereinbaren. Bei ihrem ersten Besuch im Jahr zuvor war dafür keine Zeit gewesen. Inzwischen rannte ihr die Zeit davon, denn lange würde es nicht mehr dauern, und sie fände keine Bekannten ihrer Urgroßmutter mehr.
Dann erklärte sie dem Team vom Kulturhauptstadtbüro, was sie nach Chemnitz trieb, und fragte nach einem Treffen für ein Gespräch. Der Termin am Dienstagnachmittag war perfekt. Vorher wollte sie in die Kunstsammlungen gehen.
Die Antwort von der Jüdischen Gemeinde traf schnell ein. »Sicher erinnern wir uns an Sie und den merkwürdigen Mann mit seinem Verfolgungswahn. Sie können sich am Mittwochvormittag mit Frau Rosenkranz treffen. Sie kannte Ihre Urgroßmutter und kann Ihnen etwas von ihr erzählen. Außerdem habe ich unseren Historiker angefragt. Er forscht seit vielen Jahren zu den Spuren jüdischer Geschichte in Chemnitz und hat die Ergebnisse für ein Buch zusammengetragen. Wir suchen zurzeit nach Sponsoren, um es drucken zu lassen.« Auch der Besuch des Jüdischen Friedhofes wurde bestätigt. Im Abspann der Mail fand Adina die Kontaktdaten und die Adresse der Frau, die sie bei sich zu Hause zum Gespräch erwartete. Sie verfasste eine Bestätigung und schickte sie mit einem Klick nach Chemnitz. Für den Abend hatte sie sich im Schalom einen Platz reservieren lassen. »Wir freuen uns«, hatte Uwe vom Team kurz und bündig geantwortet.
Oli war noch einmal im Annaberger Revier gewesen. Er kehrte am frühen Nachmittag zurück, um die restlichen Sachen einzupacken. Am Dienstag wollte er früh zeitig nach Dresden aufbrechen.
»Und?«, fragte Adina nach dem Begrüßungskuss.
»Lass mich erst einmal ankommen. Es gibt ein Amtshilfeersuchen.«
»Amts-hil-fe-er-su-ch-en.« Adina zog die Silben des Wortes weit auseinander. »Wer denkt sich solche Wörter aus?«
»Willst du etwas über den Toten in Chemnitz wissen oder dich mit mir über Fachbegriffe streiten? Das heißt eben so. Wir können nicht einfach ins Ausland fahren und dort ermitteln. Außerdem darf ich dir das gar nicht erzählen.«
»Och, Oli, nun sei nicht gleich so gereizt. Das war doch nur ein Scherz.«
»Du hast recht. Normalerweise hebt mich das nicht an. Aber ich bin nun doch aufgeregt und sehr gespannt, was mich in Dresden erwartet.«
»Es wird nicht schlimmer werden als hier. Und du wirst genau wie hier arbeiten. Oder was befürchtest du?«
»Ich war seit dem Studium nie lange von Annaberg weg, nur im Urlaub. Und dabei nach zwei Wochen zurück in meiner Wohnung.«
»Oli, du hast diese Woche effektiv dreieinhalb Tage. Bis Dresden sind es keine 100 Kilometer. Und am Freitag sehen wir uns wieder.«
»Stimmt. Übrigens glauben die Ermittler nicht, dass der Künstler etwas mit der Autoleiche zu tun hat. Und ich auch nicht.«
Adina war froh, dass Oli den Faden wieder aufgenommen hatte. »Weiß man denn schon, wer der Tote ist? Das Geschlecht steht wohl fest.«
»Ja, es ist ein Mann. Und vermutlich … Nein, Adina, das ist Spekulation und das darf ich dir nun wirklich nicht …«
»Oli, ich kann schweigen. Glaub mir.«
»Es könnte etwas mit der Kulturhauptstadt zu tun haben. Oder mit Geld. Oder mit beidem. Er war Berater oder so etwas. Du fährst doch morgen nach Chemnitz. Vielleicht erfährst du dort mehr. Halt mich auf dem Laufenden. Und bitte: keine Alleingänge!«
Oli war bereits aus dem Haus gegangen, als Adina erwachte. Sie beschloss, in Chemnitz zu frühstücken. Es dauerte nicht lange, und sie begab sich zum Auto. Je mehr sie sich Chemnitz näherte, desto mehr schwand der Winter. Die Straßen waren komplett frei. Ihr erster Weg führte sie in die Kunstsammlungen, die sie bereits von ihrem Erzgebirgsprojekt her kannte. Hier war sie in den Medienrummel geraten, nachdem sie der Polizei entscheidende Hinweise gegeben hatte und dadurch der Diebstahl eines Bildes aufgeklärt werden konnte. Inzwischen war die Direktorin von damals in den Ruhestand gegangen. Der neue Generaldirektor stand mit der Bewerbung für die Kulturhauptstadt und dem 100-jährigen Jubiläum der Kunstsammlungen gleich vor einer richtigen Herausforderung.
Für ein komplettes Frühstück war es ein wenig spät. Deshalb lief Adina zur Gastromeile in der Inneren Klosterstraße und suchte sich ein Café mit einem kleinen Speiseangebot. Von hier aus war es nicht so weit zum Kulturhauptstadtbüro.
»Adina Pfefferkorn? Sie hatten einen Termin mit unserem Chef. Leider müssen Sie mit mir vorliebnehmen. Er musste kurzfristig weg. Die Geschichte mit dem Auto, Sie wissen schon. Ich bin seine Vertretung«, stellte sich die Blondine am Tresen vor. »Schauen Sie, das hat er für Sie vorbereitet.«
Adina nahm eine Mappe mit Papieren entgegen. »Wie war Ihr Name?«, fragte sie die Mitarbeiterin. »Frau Kemnitzer. Wie Chemnitz, nur mit K und er am Ende. Das kann man sich leicht merken. Nehmen Sie doch Platz und schauen Sie alles in Ruhe durch. Wenn Sie Fragen haben, sprechen Sie mich an. Für Details würde ich vorschlagen, dass Sie einen neuen Termin vereinbaren, wenn der Trubel hier nachgelassen hat.«
»Das wäre dann 2026, schätze ich. So viel Zeit habe ich nicht«, erwiderte Adina. Die Blondine prustete los.
»Ich meine den Trubel mit dem Mord.«
Oha, dachte sich Adina. Endlich hat jemand das böse M-Wort ausgesprochen. »Ja, ich glaube, das ist das Beste. Wenn Sie nichts dagegen haben, nehme ich die Mappe mit nach Hause. Ich melde mich dann telefonisch oder per Mail.« Adina packte die Sachen in ihre Tasche, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Natürlich. Wir hoffen, die Sache ist bald aufgeklärt. Mit dem Skoda haben wir einiges vor.«
»Ach ja?«
»Klar, er war so ein toller Aufreger. Und bewährte Waffen nutzt man bekanntlich weiter. Sie sind eine Frau, da muss ich nichts erklären!«
»Stimmt! Hatte das nicht Brigitte Reimann in ihrem Kultroman Franziska Linkerhand über den Minirock gesagt? ›Bewährte Waffen verschrottet man nicht.‹ Ein Lieblingsspruch meiner Mutter. Dann tschüss bis zu besseren Tagen«, verabschiedete sich Adina. Die freie Zeit nutzte sie für einen Spaziergang durch den Wasserwerkspark, der direkt an der Strecke nach Annaberg liegt. Angesichts der Temperaturen reichte ihr eine kleine Runde. Dann fuhr sie die B95 zurück in ihre Annaberger Bleibe.
Am Abend schickte Oli eine Sprachnachricht.
»Ich bin ziemlich fertig, früh die Fahrt, dann arbeiten und Wohnung einrichten. Aber meine Bude ist wunderschön, in Dresden-Neustadt, gleich an der Kunsthof-Passage. Das wird dir gefallen, Adina. Lass uns morgen telefonieren. Ich gehe duschen und ins Bett.«