Eine weitere Iljušin (IL-14) wurde am 8. Juni 1970 zum Fluchtmittel in den Westen. Das Verkehrsflugzeug der ČSA auf dem Flug von Karlsbad nach Prag landete in Nürnberg. Die acht Entführer waren im Alter zwischen 18 und 25 Jahren. Zwei Monate später, am 8. August 1970, landete eine weitere Iljušin in Wien.
Am 19. Dezember 1972 floh Ladislav Bezák, ehemaliger Weltmeister im akrobatischen Fliegen, über die Landesgrenze. Bezák war ein Pilot der ČSA, aber als Unterstützer von Dubčeks Prager Frühlings durfte er nicht ins Ausland fliegen. Mit seiner Frau und vier Kindern hob er mit einem Kleinflugzeug vom Flughafen in Kladno ab und landete nach einem dramatischen Flug, bei dem sie durch eine Flugpatrouille des Typs Mig-15 verfolgt wurden, auf einem Zivilflughafen bei Nürnberg.
Am 28. Oktober 1976 nutzte Rudolf Bečvář ebenfalls ein Flugzeug, um in den Westen zu fliehen. Dabei handelte es sich um ein Flugzeug der ČSA auf der Strecke von Prag nach Bratislava. Rudolf Bečvář drohte der Besatzung der Iljušin (IL-18) mit 104 Fluggästen an Bord mit einer Schusswaffe und zwang sie, den Kurs zu ändern und in München zu landen. Die sonstigen Passagiere landeten am nächsten Tag in Prag-Ruzyně. Das tschechische Tageblatt Rudé Právo präsentierte Bečvář als einen Verbrecher, der des Mordes an seinem Bruders verdächtig war.
Obwohl das vorliegende Buch Fluchten per Flugzeug nach 1953 nicht in den Fokus stellt, darf der 8. Juni 1972 als schwarzer Tag der tschechoslowakischen Luftfahrt mit dem gewaltsamen Tod des Piloten Ján Mičica in dieser Übersicht nicht unerwähnt bleiben.49 An dieser Stelle muss ebenso angemerkt werden, dass diese Entführung mit der Philosophie der Entführungen der Dakotas, die durch die ‚Westler‘ am Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre unternommen wurden, keine Gemeinsamkeiten aufweist. Eine Gruppe junger Leute im Alter zwischen 17 und 23 Jahren entschied sich 1972, ein Flugzeug zu entführen. Sie wurde von Lubomír Adamica, einem Drogensüchtigen mit bewegter Vergangenheit, geleitet. Seine Probleme führten zu seinem Ausschluss von der Oberschule. Im September 1968 emigrierte er über die BRD in die USA, wo er als Gelegenheitsarbeiter tätig war. 1971 kehrte er nach Prag zurück. Zwei Tage vor der Flugzeugentführung flog ein Teil der Gruppe nach Mariánske Lázně (Marienbad). Es war eine Art Test der Sicherheitsmaßnahmen an Flughäfen. Die Beteiligten wollten so herausfinden, ob es ihnen gelänge, Waffen an Bord zu schmuggeln. Die Kontrolle in Prag wurde mit Röntgengeräten bzw. Metalldetektoren gründlich durchgeführt. Beim Rückflug von Prag nach Marienbad stellten sie aber fest, dass der Flughafen der Kurstadt über keine Detektoren verfügte und Frauen keiner Kontrolle unterzogen wurden. Die Entführer nutzten dies und schmuggelten die Waffen ins Flugzeug in Marienbad mittels zweier Frauen, Olga Setnická und Alena Heinzová. Im Flugzeug, das über Prag und Bratislava nach Lučenec (Lizenz) flog, übergaben diese die Waffen Adamica und Jiří Beran. Die weiteren Beteiligten waren František Hanzlík, Jaromír Kerbl, Jiří Vochomůrka, Jaromír Dvořák, Milan Trčka und Alena Černá.
Kurz nach dem Abflug von Marienbad griffen Adamica und seine Begleiter die Fluggäste an und drangen in das Cockpit ein. Adamica schoss dem Piloten Mičica in den Hals und zwang den zweiten Piloten Dominik Chrobák, den Kurs des Flugzeugs des Typs L-410A Turbolet (Bez. OK-ADN) der Fluggesellschaft Slov Air in Richtung Westdeutschland zu ändern. Adamica gab Mičica keine Chance, seine Forderungen zu erfüllen, bevor er den Schuss abgab.
Mit der Leiche des ersten Piloten an Bord landete Copilot Chrobák auf dem Flughafen Weiden. Nach einem misslungenen Fluchtversuch wurde Adamica mit seinen Komplizen von der deutschen Polizei gefasst und verhaftet. Adamica wartete nicht auf sein Urteil, er erhängte sich. Die restlichen neun Entführer wurden Ende 1973 durch ein westdeutsches Gericht zu Freiheitsstrafen von drei bis sieben Jahren verurteilt.50 Sie wurden nach der Hälfte der verhängten Strafen entlassen. Die Verurteilten konnten erst 1990 nach der Begnadigung durch Präsident Václav Havel in die Tschechoslowakei zurückkehren.
Fluchten in die Freiheit mit Flugzeugen aus sozialistischen Ländern gab es nicht nur in der ČSR, sie kamen von Anfang an in allen Ländern des Ostblocks vor, in der DDR insbesondere nach dem Bau der Berliner Mauer. Betrachten wir diese Fluchten jedoch genauer, so findet man die Besonderheit der starken Beteiligung der ehemaligen Angehörigen der RAF in Ländern wie Polen, Ungarn, der DDR, Rumänien oder Bulgarien nicht, dies bleibt eine Besonderheit der Fluchten aus der ČSR.
In Polen und im Westen wirbelte Franciszek Jarecki, Militärpilot und Leutnant der Luftwaffe, die öffentliche Meinung auf. Seine Flucht vom 5. März 1953, als er von der Militärbasis in Slupsko mit einem Jagdflugzeug des Typs Mig-15 abflog und auf der dänischen Insel Bornholm landete, war eine Sensation. In der Tat war sein Manöver eine Meisterleistung: über dem Baltischen Meer trennte sich er von seiner Gruppe der Mig-Jäger, flog beinahe kopfüber bis zur Meeresoberfläche und landete dann auf der kurzen Landebahn der Insel. Zu einer ähnlichen Sensation führte auch die Flucht eines weiteren polnischen Fliegers, Leutnants Zdzislaw Jazwinski, der mit seiner Mig-15 am 20. Mai 1953 auf dem gleichen Flugplatz landete. Die dritte polnische Landung auf dieser Insel führte ein weiterer Militärflieger, Zygmunt Goscimiak, am 25. September 1956 durch. Ebenso wie seine Vorgänger nutzte er die Mig-15 für seine Flucht.
In Ungarn und der Tschechoslowakei wurde die Entführung des Verkehrsflugzeugs Tu-154 der Fluggesellschaft Malév, das mit einem Zwischenstopp in Prag nach Amsterdam flog, im März 1989 bekannt. Während des Zwischenstopps versuchten zwei Fluggäste, den Piloten zur Änderung der Flugroute zu zwingen und in die USA zu fliegen. Die Entführer waren zwei 16-Jährige, Štefan Mačičko und Dušan Styk, die mit Granaten und Jagdschusswaffen bewaffnet waren. Das ungarische Flugzeug landete schließlich in Frankfurt am Main und beide Entführer beantragten politisches Asyl.51
Die Fluchten per Flugzeug waren dennoch ein spezifisches Merkmal der Tschechoslowakei. Im Vergleich dazu tragen die Fluchten aus dem gesamten Ostblock, die im Zeitraum des „Gulasch-Sozialismus“, vor allem während der Sommerurlaube mittels Autobussen oder Autos wie Trabis, Škodas oder mit Konserven beladener polnischer Fiats unternommen wurden, auch ein typisches Merkmal: die Massenhaftigkeit.
Kommen wir noch einmal zu den Fluchten in die Freiheit aus der ČSR in den Jahren 1948–1953 zurück. Sie gewannen bereits kurz nach dem Februarumsturz an Intensität, die bis 1953 andauerte. Danach ging die Emigrationswelle bis ans Ende der 1950er Jahren etwas abgeschwächt weiter. Dafür gibt es mehrere Ursachen. Der Hauptgrund dafür war eine strengere Überwachung der Grenzen zu Österreich und Westdeutschland und der Bau von Drahtzäunen an diesen Grenzen. Das geflügelte Wort von Karl Marx, dass das Regime und das Leben im kommunistischen Staat so perfekt und vollkommen seien, dass das Land umzäunt und vor allen, die aus dem Kapitalismus in das gerechte „Paradies“ fliehen wollen würden, geschützt werden müsse, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil, das kommunistische Regime baute Grenzzäune auf, um die Flucht der eigenen Bürger zu verhindern, die seine totalitären Prinzipien und Praxen ablehnten. Im Raum der ČSR wurde die erste Emigrationswelle nach Februar 1948 von einer Emigrationswelle Ende der 1960er Jahre abgelöst, die das Ergebnis der Invasion von Truppen der „befreundeten“ Armeen im Jahr 1968 war. Beide Wellen tragen viele Gemeinsamkeiten, doch unterscheiden sie sich in einem wesentlichen Merkmal: Während in der Migrationswelle nach Februar 1948 vor allem diejenigen flohen, die nicht vom Kommunismus überzeugt waren, flohen während der Emigrationswelle nach August 1968 insbesondere Kommunisten, die ihre Illusion über das Regime verloren hatten. In beiden Fällen flüchteten alle Bevölkerungsschichten, doch vor allem junge, gebildete Menschen.
Die Fluchten in die Freiheit waren jedoch nicht nur mit einem politischen oder wirtschaftlichen Aspekt verbunden. Genauso wichtig ist auch der soziale Faktor, und zwar die Entscheidung, alle Brücken hinter sich abzureißen, im vollem Bewusstsein zu fliehen, dass es kein Zurück nach Hause mehr geben würde, dass Familienbande