Der Balancierer – Mein Leben mit Epilepsie. Ingeborg Wressnig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ingeborg Wressnig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783701180776
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durchbohrten meinen Rücken. Mit einer schnellen Handbewegung öffnete ich die Türe. Warme Luft strömte mir entgegen. Der Gruppenraum war voll mit Menschen verschiedenster Altersstufen. Lustige, traurige, ängstliche Gesichter starrten mich an. Ich wusste nicht mehr, ob ich normal, verrückt oder krank war.

      Dr. Rossmann betrat den Raum. Er strahlte, er war ein Mann mit Charisma. Seine Seele meldete, im Unterschied zu meiner Seele, keine Störung. Seine Bewegungen waren natürlich. Sein gut geschnittenes Gesicht, ganz zu schweigen von seinem muskulösen Körper, verwandelte meine innere Sicherheit in eine wackelige, puddingartige Konsistenz.

      „Guten Morgen, ihr Lieben.“

      Dr. Rossmann stellte sich kurz vor und ging zum „Wetterbericht“ über.

      „Wie geht es uns heute Morgen?“

      Gerda war die Erste, die sich vorstellte. „Bei mir scheint heute die Sonne, ich habe es endlich geschafft, die Scheidung einzureichen.“

      Michael saß neben mir. Er erzählte von seinen Fortschritten im Kampf gegen seinen Lungenkrebs.

      Ich war an der Reihe.

      „Schöne Frau, welche Wetterlage bringst du mit?“

      Wieso ist der mit mir per DU? Warum sagt der „schöne Frau“ zu mir? Warum haben meine Eltern, Lehrer, mein Mann noch nie zu mir „schöne Frau“ gesagt? Oder ist es sein Trick, der Trick der Natur, Verliebtheit zu steuern, damit Fortpflanzung garantiert wird?

      „Danke der Nachfrage, bei mir ist es eher stürmisch, Blitz und Donner. Noch kein Regen, könnte aber folgen.“

      Ich drückte gerade die ersten Tränen hinunter. Nein, nicht hier, nicht jetzt, keine Hilflosigkeit zeigen! Waren es vielleicht Freudentränen?

      Vielleicht ist er ein Mensch, der mich einfach mag, mich vielleicht liebt, so wie ich bin, mit meiner Verrücktheit, meiner Hilflosigkeit und Sehnsucht, geheilt zu werden. Mein Puddingkörper erstarrte. Aber was ist denn schon Liebe?

      „Spielarten und Spielregeln der Liebe“ von Eric Berne habe ich im Zug gelesen. Die Psychologie beschäftigt sich mit den zahlreichen Spielarten der Liebe und des Liebesentzuges. Das Buch lehrt uns, Liebe und Sexualität als substanzielles Spiel des Menschen zu begreifen, in dem der Einzelne bewusst seine Isolierung überwindet und sich im anderen erkennt.

      Nach Auffassung der Evolutionspsychologen, lese ich heute im Internet, werden Frauen und Männer bei der Partnerwahl von Vorlieben regiert, die sich über Millionen von Jahren von unseren Vorfahren auf uns weitervererbt haben. Diese „Steinzeit-Psyche“ soll Frauen auf starke oder statushohe Beschützer-Typen reagieren lassen; Männer dagegen auf junge, hübsche Frauen. Schönheit gelte bei beiden Geschlechtern offenbar als Indiz für „gesunde Gene“, wie auch Humanethologen bestätigen. In diesem Zusammenhang wurde auch vielfach untersucht, was „Schönheit“ bedeutet, welche körperlichen Merkmale für beide Geschlechter als attraktiv gelten. Männer beurteilen demnach unbewusst die Fortpflanzungstauglichkeit. Das Verhältnis von Taille zu Hüfte ist optimalerweise 7:10. Im Vordergrund steht nicht so sehr die Schönheit der Form des Körpers oder das Gewicht, sondern ob es aufgrund des Körperbaus Schwierigkeiten bei der Geburt geben könnte. Männer lieben schöne Haut, Backenknochen, weniger Make-up, die Farbe Rot und ein Lächeln, gesunde junge Körper, die sich gut bewegen, einen guten Duft verströmen, eine höhere Stimme und sie achten auf die Länge und Struktur der Haare.

      (Vgl. dazu: http://www.huffingtonpost.de/2014/10/30/was-maenner-attraktiv-finden_n_6073460.html)

      Ob Dr. Rossmann eine Antwort auf die Frage, was Liebe zwischen Mann und Frau bedeutet, hat? Wie er wohl Treue definiert? Wie passen freie Liebe und Treue zusammen?

      Der Gedanke an meine Krankheit verdrängte die Liebe. Ich hasste meine Krankheit. Niemanden und nichts habe ich in meinem Leben so gehasst wie die Epilepsie. Ich verabscheute sie, weil sie Tod und Verzicht bedeutete. Mein Blick war auf Dr. Rossmann fixiert. Würde er mir helfen können? Oder würde ich mit zwei Leiden nach Hause kommen: Der Epilepsie und dem Zustand der Verliebtheit? Fallsucht mal zwei?

      Dr. Rossmann setzte sich neben mich. Ich genoss seine Nähe, wie er roch, seine Höflichkeit, seine Stimmlage. Ich fühlte mich wie eine Prinzessin.

      „Ich bin krank.“ Die Tränen rollten über meine Wangen. „Ich bin Epileptikerin.“ Mein Schluchzen erschütterte den Raum. Alle im Raum hörten mir zu, niemand unterbrach mich. Gerda reichte mir ein Taschentuch.

      „Und wer bist du noch? Welche Wünsche, Bedürfnisse, Sehnsüchte hast du? Was erwartest du dir vom Leben?“

      „Das weiß ich nicht.“

      „Das weißt du noch nicht.“

      Ein Lächeln huschte über mein Gesicht.

      An der Eingangstüre hing ein Plakat mit einem Gedicht von Rainer Maria Rilke:

      Man muss den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen,

      die tief von innen kommt und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann;

      alles ist austragen – und dann gebären … Reifen wie ein Baum,

      der seine Säfte nicht drängt

      und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,

      ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte.

      Er kommt doch!

      Aber er kommt nur zu den Geduldigen,

      die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,

      so sorglos, still und weit.

      Man muss Geduld haben

      gegen das Ungelöste im Herzen

      und versuchen,

      die Fragen selber lieb zu haben,

      wie verschlossene Stuben und

      wie Bücher,

      die in einer sehr fremden Sprache

      geschrieben sind.

      Es geht darum,

      alles zu leben.

      Wenn man die Fragen lebt,

      lebt man vielleicht allmählich,

      ohne es zu merken,

      eines fremden Tages,

      in die Antwort hinein.

      Alle warteten, bis ich das Gedicht fertig gelesen hatte. Mein Herzschlag pendelte sich ein. Das Gefühl, verstanden zu werden, erwachte für Sekunden in mir. Der Balancierer spielte seine Symphonie.

      Wer bestimmte in meinem Innenreich? Ich, die Unternehmerin, oder meine Mitarbeiter, die vielen Persönlichkeitsanteile in mir? Wenn ich eine Zählung machte, wie viele Mitarbeiter stimmten für mich? Eine Stimme, die sich ständig hervortat, kannte ich sehr gut. Es war der Zweifel: Du musst unsichtbar werden, dich übermalen, ausradieren, hier droht Gefahr!

      Die Gruppe machte Pause. Ich stürzte mich mit einigen anderen in das Alltagsleben, auf die Straße, ins nächste Kaffeehaus. Der Kaffee schmeckte. Ich genoss die Distanz zu mir selbst, meinen Ansprüchen, meinen Illusionen. Ich fühlte mich zugehörig zu den Menschen, die Kaffee tranken und Kuchen in sich hineinschlangen. Wir hatten alle etwas Gemeinsames, das uns zusammenführte. Große oder kleine Probleme.

      „Wann ist eine Lüge hilfreich?“, wollte Gerda von Michael wissen.

      Wie so ein Lungenkrebs wohl ausschaut?

      „Wenn eine Lüge Wirklichkeiten erzeugen kann, die uns helfen, aus der Dunkelheit zum Licht zu gelangen, ist sie okay. Eine Lüge, die in die Irre führt und Leid bringt, diese Form der Lüge ist abzulehnen.“

      Michael musste ein Philosoph sein, dachte ich.

      Ob Gerda Kinder hatte? Wie würden meine Kinder auf eine Scheidung reagieren?