Der Balancierer – Mein Leben mit Epilepsie. Ingeborg Wressnig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ingeborg Wressnig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783701180776
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      Ein Jahr nach meiner Geburt begann ein neues Österreich.

      Ende 1946 übersiedelte die ganze Familie wieder nach Graz.

      Ich war ein ganz normales Baby und entwickelte mich schnell zu einer begeisterten Bilderbuchleserin. Mein Lieblingsbuch war „Tiniwini, der kleine Fisch“. Tiniwini hatte Vater und Mutter, einen Fischbruder und eine kleine Fischschwester. Tiniwini schwamm hinter den Eltern, dann kam sein Bruder Tiniwani, dann schwamm zart und fein Tiniwinis Schwesterlein hinterdrein. Die Fischfamilie wirbelte durch die schönsten Flüsse und Seen des zerbombten Österreich.

      Zweimal in der Woche, wenn meine Mutter Obst und Gemüse aus dem Garten ihres Vaters holte, durfte ich mit ihr in der Straßenbahn vom Südtiroler Platz bis in die Puchstraße zum Opa fahren. Am liebsten war ich im Erdbeerbeet. Ich kletterte aber auch auf Bäume, pflückte Kirschen, Birnen und Zwetschken. Mit den Geschwistern, Cousinen und Cousins spielte ich Winnetou und das eine oder andere Mal durfte ich sogar in die Rolle von Winnetous Schwester Nscho-Tschi schlüpfen.

      Einmal, so erzählte mein Bruder Alexander, war ich mitten in der Küche plötzlich umgefallen. Ich hatte das Bewusstsein verloren. Das Kindermädchen Luise schüttete mir – als sie den ersten Schock überwunden hatte – einen Kübel Wasser ins Gesicht. Ich lachte wieder.

      Zu den Familienfesten wurde getanzt, gesungen, Theater gespielt. Das Schönste war das Gleiten auf den Leinensäcken, die für das Mehl bestimmt waren. Wir rutschten auf den spiralförmigen Mehlrinnen von hoch oben tief nach unten in das Lastauto, das auf die nächste Fahrt wartete. Das freudige Lachen war überall zu hören und blieb mir ein Leben lang im Ohr. Für mich war es eine lustige Zeit. Für meine Eltern eine Zeit des Geldverdienens und des Vergessens.

      Ich hörte gerne meiner Mutter zu, wenn sie mir Grimms Märchen vorlas. „Aschenputtel“, „Der Froschkönig“ oder „Hänsel und Gretel“. Der Traum jedes kleinen Mädchens war jener von der Liebe zwischen dem Prinzen und der Prinzessin. Der Prinz erlöst die Prinzessin von ihren Leiden und der Ungerechtigkeit der Welt. Als kleines Mädchen wollte ich zuerst, dass mein Vater mich erlöst, dann, mehr unbewusst als bewusst, mein erster Freund, später mein Mann, dann Gott und am Ende mein Therapeut.

      In der Schule interessierte ich mich mehr für die schlimmen Kinder als für die behüteten, braven. Fremde Welten zogen mich an. Begegnung bedeutete für mich Spiel, Verführung, mich in Szene setzen. Spielkameraden und Spielkameradinnen hatte ich immer genug.

      Als ich neun Jahre alt war, besuchten meine Eltern Tante Mimi, und ich durfte mit. Immer auf der Suche nach einem Turngerät schwang ich mich auf die Teppichklopfstange. Ein Felgaufschwung, ein Krach, ein Schmerz, ich brüllte um Hilfe. Entsetzte Gesichter in meinem Umfeld. Mutter weinte, meine schönen Schneidezähne waren abgebrochen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich ganz in Ordnung gefühlt. Nun änderte sich dieses Gefühl ein wenig. Meine Schönheit, so dachte ich, war verloren.

      Als Jugendliche wollte ich Freundinnen finden, Freunde haben, befreundet sein mit denen, die größer, wichtiger, reicher, gescheiter, bedeutender waren als ich.

      Meine erste Liebe war Bernd. Er interessierte sich für das Theater, brachte mir Kafka nahe. Bernd war ein rebellischer Antiheld, wie Belmondo. Er hielt sich an keine Regeln, war ein Kleinganove. Wir verbrachten viel Zeit auf Partys, bei Matura-Kränzchen und im Kino. Dann ging Bernd nach Wien und studierte Theaterwissenschaften, ich ging weiterhin in die Schule. Einmal besuchte ich Bernd sogar in Wien, aber in der Großstadt hatte er an Bedeutung verloren. Er war weder Komödiant noch sportlicher Held – er war kein Belmondo mehr. Unsere Wege führten in verschiedene Richtungen: Ich studierte in Graz Geschichte und Philosophie, er blieb den Theaterwissenschaften treu.

      Dann ging ich nach Paris, um Französisch zu studieren. Dort lud mich ein junger Franzose zu einem unvergesslichen Event ein: Ich sah und hörte die Beatles, den Franzosen habe ich vergessen. Die große Welt traf sich in Paris und nicht in Graz, und ich gehörte zu denen, die die große Welt kannten.

      Ich erinnere mich daran, dass ich immer wieder Angst hatte, dass meine Mutter zu viel arbeitete, zu viel putzte, sich zu sehr um andere Sorgen machte. Einmal weinte sie in der Kirche während der Christmette. Ich war unsicher, ob meine Mutter nur erschöpft war oder ganz andere Sorgen hatte.

      Es war in einer kalten Nacht 1953, als das Bett neben Mutti leer stand. Ich schlief im gleichen Zimmer und hörte sie weinen. Mitfühlend fragte ich sie, wo Vater geblieben sei. „Vater ist krank, er ist im Sanatorium.“ Waren es Tränen des Glücks, weil er gut versorgt wurde, oder Tränen der Angst und Trauer?

      Im Schlafzimmer war es eiskalt. Ich schlüpfte immer tiefer unter die Decke, zog meine Beine hoch, mit den Händen umfasste ich meine Knie. Wie ein Ei lag ich am Bettende meiner Mutter. Sollte ich sie trösten, bei ihr Schutz suchen, Fragen stellen? Ich hatte Angst, Mutti könnte zum Vater eilen. Angst, allein zurückzubleiben. Ich wollte nicht vor zwei leeren Betten die Nacht verbringen. Ich wollte mit meinen Cousinen, Onkeln und Tanten lachen – wie damals, als Vaters Geburtstag gefeiert wurde. Mutti hatte eine kleine Geburtstagsrede gehalten: „Lasst uns Gott danken, dass unser Vater wegen eines Magengeschwürs dem Kriegsgeschehen entkommen konnte. Dass Gott ihn nach Hause schickte, dass wir gemeinsam heute seinen Geburtstag feiern dürfen.“

      Ob Gott auch dieses Mal an Vater dachte?

      „Bitte lieber Gott, vergiss Mutti und mich nicht, ich bin am Erfrieren und Muttis Sorgen werden sie noch umbringen.“

      Mit dem Gedanken an Gott kam der Schlaf wieder. Als mein Vater zwei Wochen später nach Hause kam, erzählte er strahlend, dass seine Freunde, die Ärzte, und nicht Gott ihm ein zweites Mal sein Leben geschenkt hatten.

      Wenn mein Vater damals in meiner Mittelschulzeit die Geschichte-, Religion- und Philosophieskripten mit mir durcharbeitete, war ich ihm ganz nah. Er konnte viele Fragen beantworten, ließ aber auch viele Fragen offen, so als ob nur ich selbst sie beantworten könne. Er warnte mich vor „Viren des Geistes“ – Glaubenssätzen, die wie Viren den befallenen Organismus zur Weiterverbreitung ihres eignen Erbguts anregten.

      Kein Wunder, dass ich Geschichte und Philosophie studierte, um in Erfahrung zu bringen, was er damit wohl meinen könnte.

      Mein Hauptaugenmerk als Studentin richtete sich aber auf Partys, Kinobesuche, Sport und auf die Männerwelt.

      Einmal stand meine Mutter im Nachthemd auf der Straße, während ich mit meinem Freund Christian im Auto über die Welt philosophierte.

      „Es ist Zeit, dass du nach Hause kommst!“ Ich rutschte vor Scham auf den Boden des Autos. Christian fand die Szene lustig.

      Der Märchenprinz

      Es war das Jahr 1967. Wie im Märchen stand er eines Tages vor mir, Prinz Georg. Er forderte mich zum Tanz auf, erklärte und zeigte mir die Welt. Mit mir wollte er sein Leben teilen und Kinder haben. Ein Prinz, der mich liebte, verehrte und mich zum Traualtar führen wollte, war der Richtige. Er konnte sehr gut tanzen, ganz zu schweigen von seinen furchtlosen Bewegungen im Tiefschnee. Was er sagte, hatte Hand und Fuß und klang nach Abenteuer, nach fremden Welten.

      1967 heirateten wir in der Kapelle des Schlosses Eggenberg.

      Das Renaissanceschloss der Fürsten Eggenberg ist umgeben von einem herrlichen Park. Ich schlenderte wie eine Prinzessin durch den Park, bevor ich den Bund fürs Leben schloss.

      1972 kam unsere erste Tochter Lisa zur Welt. Um 18 Uhr ging ich ins Sanatorium, um 7 Uhr in der Früh war sie dann da. Die Nacht war lang, umso größer die Freude, als sie dann in meinen Armen lag.

      Im Februar 1974 folgte unsere zweite Tochter Nora. Es war eine einfache Geburt. Wir beide ließen uns im Sanatorium von den Schwestern und Ärzten verwöhnen. Als wir nach Hause kamen, war für die kleine Familie alles liebevoll vorbereitet. Ende 1974 zog die junge Familie in ihr Traumhaus nach Salzburg. Hier blickte ich gerne die Bibliothekswände entlang hinaus in den Garten. Im Esszimmer hing ein Portrait meiner Mutter, das sie als Siebzehnjährige zeigte: Die Haare zu einem Bubikopf geschnitten, schöne braune, mandelförmige Augen, leicht wulstige Lippen, ein gespitzter Mund, markante Wangenknochen, eine gleichmäßige Nase, ein