Der Balancierer – Mein Leben mit Epilepsie. Ingeborg Wressnig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ingeborg Wressnig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783701180776
Скачать книгу
Blick wanderte von dem Bild meiner Mutter zur Löwin aus Ton, die im Wohnzimmer auf einem geschwungenen Eisengestell thronte. Sie saß majestätisch wie eine Königin auf ihren muskulösen Hinterbeinen. Ihre Pranken konnten Angst einflößen. Sie waren zudem fantasievoll verziert. Ihre Vorderbeine stützten den graziösen Körper und anmutigen Kopf. Sie war eine natürliche Schönheit. Ich liebte ihre wachsamen Augen und Ohren, ihre feinfühlige Nase. Sie roch jede Gefahr zur rechten Zeit, um die Familie zu schützen. Darum wollte ich so sein wie sie, eine liebende Partnerin und Mutter. Die Familie, so dachte ich, ist das kleinste soziale Netz der Gesellschaft. Wenn sich Familien gesund entwickeln, wird sich die Welt zum Besseren ändern.

      Ich war keine Frau, die auf den Feldern arbeiten musste. Ich war eine Frau mit normalen Händen, nicht zu breiten und auch nicht zu schmalen Fingern. Die Adern meiner Hände waren gut sichtbar und fühlbar. Lebensadern, die keine Narben erkennen ließen. Die Haut, die meine Hände umhüllte, war nicht sehr geschmeidig, aber auch nicht schrumpelig. Meine Fingernägel waren kurz und ohne Lack. Ob meine Hände und Füße attraktiv waren, danach hatte ich mich damals, als junge Frau und Mutter, nicht gefragt. So wie ich auch auf anderen Ebenen nicht viele Fragen stellte. Wie schön oder hässlich ich war, wie ich auf andere Menschen wirkte, welcher Körper mich durch die Gassen trug, wie ich meine Arme, Beine, Hüften schwang, wenn sich Menschen näherten. Ich sprach, ging, saß und bewegte mich „normal“. Für mich bedeutete normal damals, dass ich keine andere sein wollte als die, die ich war.

      Die Familie war mein Lebensinhalt. Mutterschaft war für mich eine hegende Beziehung im gegenseitigen Vertrauen, in Liebe und Spiel, Selbstrespekt und Respekt vor dem anderen. Wenn Lisa zu weinen begann, nahm ich sie in meine Arme und zeigte ihr Haus und Garten. Gerne erzählte ich ihr Geschichten und sang sie in den Schlaf. Und ich liebte die verzweifelten Minifältchen auf Lisas Gesicht, wenn sie zu weinen anfing und noch nicht wusste, ob sie sich freuen sollte, dass der Schlaf vorbei war und das Leben mit all den Abenteuern wieder begann, oder ob sie sich ärgern sollte, weil sie aus ihrer Traumwelt gerissen worden war. Bald würde Lisa scharfe Messer, offene Türen und Fenster entdecken, Sand, Cremen, saure Saucen, Putzmittel kosten wollen. Ihre winzige Hand berührte meine Fingerspitzen. Ihr kleiner nackter Fuß meinen Oberschenkel. Einmal stupste ich Lisa, dann Lisa mich. Ich wollte, dass Lisa mir zeigte, wie viel Nähe oder Distanz sie brauchte. Ich wartete geduldig auf Lisas Reaktionen, um zu entscheiden, wie es weiterging.

      Jeder Tag war für alle neu und aufregend, das Leben wunderschön.

      2. Teil

      Die Gesichtslose

      Les Menuires: Das Gewitter im Kopf

      Ende April 1974 fuhren Georg und ich mit Freunden zum Skifahren nach Les Menuires. Ich erinnerte mich dabei an unsere erste Sommerfahrt nach Les Menuires. Georg hatte sich damals den Jaguar seines Vaters ausgeborgt. Wir wollten die romantischen Bergstraßen erklimmen. Doch leider, der weinrote Schlitten mit dem aus Holz geschnitzten Lenkrad war zu tief gebaut. Bei jeder Unebenheit der Straße drohte das Auto aufzusitzen. Wir drehten um und rasten die Autobahnen entlang. Schon damals liebten wir Frankreich, die Menschen, die Sprache, den Wein, das gute Essen.

      Jetzt im April lagen die herrlich präparierten Skipisten vor uns. Es gab immer wieder einen neuen Lift zu entdecken, das Skigebiet war unendlich weit. Salade Niçoise, Camembert und herrliche Weine hoben die Stimmung von Minute zu Minute. Überall lagen die Menschen in Liegestühlen und erfreuten sich an der Sonne und den schneebedeckten Bergspitzen.

      Mit unseren Freunden ließen wir uns auf den Sesseln der Skilifte den Berg hinauftragen und rasten im Tiefschnee dem Tal entgegen. Wir zählten die Hänge, die Schwünge und sahen stolz auf unsere Wedelspuren zurück. Der Durst wurde immer größer. Weinbergschnecken mit Knoblauch und Petersilie waren etwas Besonderes. Die Franzosen konnten mit ihrer Küche punkten, wir Österreicher mit unseren Skiassen.

      Die Pisten leerten sich. Niemand blickte auf die Uhr. Als die Sonne hinter den Bergen versank, waren die Lifte bereits geschlossen. Der Pistendienst schon abgefahren. Die Liftsessel baumelten verlassen im Wind hin und her.

      Wir mussten, ohne Ortskenntnisse, irgendwie selber ins Tal finden. Freund Helmut hatte kein Problem mit dieser Zwangslage. Als ehemaliger Studentenrennfahrer kannte er keine Gefahr und wollte direkt die Lawinenhänge hinunterfahren. Georg widersprach sofort, wog Vorteile und Nachteile ab, sodass ich schon fürchtete, die Zeit würde nicht mehr reichen, um bei Tageslicht ins Tal zu kommen. Freund Julius fand alles nur komisch. Jörg schwieg. Die Frauen wurden immer stiller. Ich hatte Angst, dachte an die Kinder. Ein Schüttelfrost packte meinen Körper. Die Befehle in meinem Kopf wurden immer schriller und bestimmter. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich bei einem Lawinenabgang verhalten sollte. Für mich gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir kamen durch, oder wir waren tot.

      Nein, ich wollte nicht unter die Lawine kommen! Ich hatte doch gerade erst mein zweites Kind geboren!

      Der Tod war ganz nah bei mir. Er umarmte mich mit seinen eiskalten Händen.

      „Ich will nach Hause“, brüllte meine Freundin Herta.

      „Wir fahren jetzt alle los!“, befahl Helmut. Er war der Erste, Jörg der Zweite, dann kamen die Frauen. Georg fuhr zum Schluss. Wie ein Leichenzug begannen wir unseren Weg nach unten.

      Bitte, Kinder, verzeiht uns! Es war allein unsere Schuld, wir haben als Eltern versagt. Frei sein wollten wir, wie die Blumenkinder in San Francisco.

      Gott sei Dank, die Ski waren schneller als meine Gedanken. Nur nicht fallen. Vor allem nicht nach rückwärts schauen, ob die Lawine kommt. Wenn sie anrollte, das wusste ich jetzt, musste ich ihr davonfahren, musste ich schneller sein als sie.

      Wir kamen unversehrt im Tal an. Unser Lachen war unnatürlich laut, und alsbald verschwanden wir in unsere Zimmer. Ich warf mich erschöpft und glücklich auf mein Bett. Als ob ich tagelang gegen Wind und Wetter gekämpft hätte und nun am Gipfel des Himalaya angekommen wäre, so fühlte ich mich. Tränen rollten mir über das Gesicht. Ich ließ sie fließen. Erst die Erinnerung an das Lachen der Kinder brachte mich in die Realität zurück.

      Als ich am nächsten Morgen meine Augen öffnete, starrten erschrockene, blasse, fragende Gesichter mit großen, aufgerissenen Mündern auf mich herunter. Ich lag auf dem Boden im Frühstückszimmer. Wir waren auf Skiurlaub, ja, das wusste ich genau. Ganz deutlich hörte ich die Heizung klopfen, den Wind durch die Fensterritzen pfeifen. Die erste Hand, die mir entgegenkam, war die von Georg. Während ich mich etwas benommen aufrichtete, um zu fragen, was denn hier los sei, begann Jörg, der Arzt in der Runde, zu sprechen: „Wie geht es dir, Inge?“

      „Etwas benommen und müde. Bin ich gestürzt?“ Ich erinnere mich daran, wie ich meine Hand auf Jörgs Schulter legte und ihm ins Ohr flüsterte: „Jörg, es geht mir nicht gut.“ Jörg beschrieb in seiner ruhigen Fachsprache den Vorfall als eine Art Ohnmacht und empfahl mir und Georg, den Skiurlaub abzubrechen und gemeinsam in die Klinik nach Salzburg zu fahren. Die Klinik, so meinte er, sei immer noch der sicherste Ort, um Klarheit zu schaffen, was diesen Anfall ausgelöst hatte und was genau er bedeuten könnte. Mir wurde in Sekunden schmerzhaft bewusst, wie rasch ein Mensch plötzlich in einen anderen Menschen, in eine andere Identität schlüpfen konnte.

      Die Suche nach des Rätsels Lösung begann.

      Ich kam ins Schleudern. Was ist in meinem Gehirn passiert? Ich muss meinen Kopf untersuchen lassen, in die Psychiatrie, Neurologie fahren? Hatten die Polizisten damals recht gehabt?

      Ich sah mich, die anderen, die Welt aus einem neuen Blickwinkel. Nun gehörte ich nicht mehr zu den „Normalen“. Ich hatte meine Unschuld verloren.

      Ich werde für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sein. In der „Klappsmühle“ ein reglementiertes Leben führen.

      Nein, noch war alles offen. Die Diagnose nicht gestellt. Ich träumte von den Kindern, der Sonne, dem Meer, Korsika, Griechenland,