Verletzte Gefühle. Alissa Ganijewa. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alissa Ganijewa
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990471142
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wanderte sein Blick auf die halbgeöffnete Seidenbluse und ihre rosigen Schlüsselbeine. Sie wusste nicht gleich, was sie antworten sollte, nahm unvermittelt den schweren Füllhalter vom Tisch, mit dem sie die Aussage unterschrieben hatte, rollte ihn in ihren feuchten Händen hin und her, legte ihn zurück und sagte erst dann: »Sehen Sie, ich konnte kein Interesse am Tod von Andrej Iwanowitsch haben. Die Überwachungskameras zeigen es eindeutig … Er ist nicht zu mir heraufgekommen.«

      »Es beschuldigt Sie doch niemand irgendeiner Sache!«, versicherte Kapustin mit breitem Grinsen. »Im Gegenteil, ich fühle mit Ihnen. Wer nimmt Sie jetzt in Schutz, wenn es zu einer Hetzjagd kommt? Wer sichert Ihrer Baufirma sozusagen die Projekte zu?«

      »Wir schaffen das schon«, schmollte Marina.

      »Freilich«, pflichtete Kapustin bereitwillig bei. »Sie haben ja da noch diese, na, diese Schönheitsklinik ›Basilisk‹. Von den Immobilien rede ich gar nicht, die Sie erfolgreich vermieten, drei als Büros, eines als Restaurant. Sehen Sie, ich verfolge Ihre Erfolge.«

      Semjonowa schlug mit der Faust auf den Tisch: »Zählen Sie etwa mein Geld?«

      Ihre Nase weitete sich vor Zorn, die nach den Hyaluron-Spritzen zarten und straffen Wangen erzitterten vor unterdrücktem Weinen. Sie begriff, dass sie einen Fehler begangen hatte, dass sie Kapustin hätte freimütig küssen müssen, dass er ihr diese Abweisung nicht verzeihen würde. Da machte er sich erneut an sie heran, so als ob er ihr noch eine Chance geben wollte, und seine Hand mit den Stummelfingern betastete unsicher und lüstern jene Stelle hinten, die Ljamzin so rühmte und Marina dafür Kallipyga nannte.

      »Kleine«, flüsterte Kapustin ihr lechzend an den Hals, »du wirst mit mir teilen. Fünfzig Prozent des Gewinns, und die Sache ist erledigt.«

      »Erledigt?«, fragte Semjonowa ungläubig.

      »Du gehst als eine unbedeutende Nebenzeugin durch. Alles ganz einfach. Unser Andrej Iwanowitsch erlitt einen Aortariss.«

      Während Semjonowa ihrer einzigen Vertrauensperson, Pjotr Iljuschenko, von diesem Gespräch erzählte, sprang sie andauernd vom Sofa hoch, ging nervös im luxuriösen Salon hin und her, setzte sich, um bald darauf wieder aufzuspringen. Iljuschenko hingegen war über die Maßen entspannt, lag mehr als er saß in seiner seidenen Kutte im Lederfauteuil und hatte die Beine weit von sich gestreckt. Diese Kutte war für die echten Popen seit je ein Ärgernis, sie hielten Iljuschenko für einen dummen Hochstapler, verachteten sein Geschwätz und munkelten, dass er das Priesterseminar gar nicht abgeschlossen habe und also das Habit nicht tragen dürfe. Iljuschenko selbst zog es vor, sich als Anhänger der Ökumene zu empfehlen, und er liebte es, bei einem Glas puren Whiskeys über das filioque zu streiten, diese völlig nichtssagende und unsinnige Formel, die man endlich austilgen müsse, um so die gespaltene Kirche wieder zu versöhnen. Marina band ihn mit Geld an sich und hielt sich ihn anstatt der Freundinnen, die sie schon in der Studentenzeit verloren hatte.

      »Aortariss?«, artikulierte Iljuschenko nachdenklich, wobei er ein Nuss-Trüffel-Konfekt zu sich nahm. »Ich habe was von Schläfentrauma gelesen.«

      »Und?«

      »Du hast doch gesagt, dass ihr am Vorabend Streit hattet.«

      »Petja, willst du damit sagen, ich hätte Andrej zu einem gottverlassenen Winkel gebracht und dort seinen Kopf auf den Randstein gedroschen? Hast du sie noch alle?«

      Semjonowa erhob sich wieder und rieb sich vor Aufregung die gepflegten Hände. Ihr kam plötzlich Ljamzins Rücken in den Sinn, unbehaart und mit einem kaffeebraunen Muttermal am Rumpf. Seine suchenden Pupillen und das in den Minuten der Nähe verzerrte Gesicht. Die großzügigen Geschenke, immer von einem kleinen Billett begleitet. Er ließ sie von seiner Assistentin Lena überbringen, ein langhaariges, farbloses Geschöpf mit fahlen Wimpern und feuchten, wie von Hornhautablösung erkrankten Pupillen.

      Zum ersten Mal ist Ljamzin der Semjonowa vor zehn Jahren begegnet, als er noch ein knackiger Geschäftsmann war und Mitglied aller möglichen hohen Kommissionen und Beiräte. Marina lief in ihrem Baumwoll-Shirt mit einer Schar frecher, ausgelassener Aktivistinnen die Hauptstraße entlang, in den Händen glänzten Flaschen mit aus der örtlichen Fabrik stammendem süßem Sprudel. »Gönnt euch unsren Sprudel!«, hieß es auf den Plakaten. Die Brustwarzen der studentischen Aktivistinnen wippten im Takt des Laufes auf und ab, das grüne Kohlensäure-Getränk perlte ihre nackten Hälse entlang, rann in den Kragen und spritzte und zischte unter dem Kichern und Kreischen der versammelten Menge. Es war das Fest der heimischen Nahrungsmittelerzeuger. Der Triumph des Wohlstandes des Landes.

      Ljamzin war der Inhaber dieser kleinen Fabrik. Noch war er nicht Minister, seine flache Nase lachte gutmütig der Menge zu, die buschigen Brauen standen nach oben. Er warf einen klebrigen, gerührten Blick auf Marina, wie auf ein gezähmtes Tier. Er nutzte die Gelegenheit und hielt ihr eine Visitenkarte hin, die sie ohne sich zu zieren mit ihren nicht sehr eleganten Fingern entgegennahm. Ein paar Tage später trafen sie sich in einem Restaurant. Er bestellte Lammnacken, sie marinierten Lachs mit rotem Kaviar. Sie tranken alten Toskaner dazu, und der Abend endete gegen Morgen, im Zimmer eines neueröffneten Hotels. Ljamzin lag auf dem völlig zerknitterten Leintuch, schwitzend und außer Atem. »Maretschka, Maretschka«, flüsterten seine matten Lippen. Er war streichweich und überwältigt von der Woge des Glücks. Marina aber lief nackt durchs Zimmer, schaute zum Fenster hinaus, sprang zum dreiteiligen Spiegel und konnte ihr Hochgefühl nicht bezähmen. Es war, als ob sie spürte, dass dieser reiche, unternehmerische Mann ihr von nun an mit Haut und Haar verfallen war.

      »Ich habe ja nicht gesagt, dass du ihm den Schlag versetzt hast«, erklärte Iljuschenko mit der krachenden Nuss im Mund. »Vielleicht habt ihr euch gestritten, er ist außer sich geraten, und es hat alles so entsetzlich geendet.«

      »Wir haben uns am Tag vor seinem Tod gestritten. Davor. Und nicht ich habe ihn aus der Fassung gebracht. Das waren diese verfluchten anonymen ›Hinweise‹.«

      Sie hatten sich wegen der Kinderfrage gestritten. Marina wollte unbedingt eines haben, träumte davon, aber Ljamzin fürchtete sich, diese Linie zu überschreiten. Natürlich wusste seine Frau von der Dauergeliebten und ihrem üppigen Lebensstil, doch ein Kind wäre zu viel gewesen und hätte seinem gewohnten Leben mit Donnerschlag ein Ende bereitet. Noch dazu wollte Marina, dass sie heirateten. Ljamzin suchte Ausflüchte, berief sich auf seinen Sohn, der im Ausland studierte, auf die Frau, der er alles verdanke, und kaufte Marina wieder irgendein wertvolles Geklimper. Innerhalb von zehn Jahren wurde aus Marina eine feine Dame, die mit dem Bürgermeister und allen andern Würdenträgern der Stadt auf Du und Du war, Schauspieler und Sänger unter ihre Fittiche nahm, mit Hochglanzjournalen Vertraulichkeiten austauschte, einen Kosmetiksalon unterhielt und sich auf Bali für Fotoaufnahmen im Bikini räkelte. Ljamzins wurde sie dann langsam überdrüssig, doch nachts fehlte er ihr schrecklich, warum auch immer, und sie heulte ins Kissen und lief dann in ihren Salon, um sich Kollagen spritzen zu lassen und damit die Spuren der schlaflos verbrachten Nacht zu verbergen.

      Semjonowa ging zum bronzegerahmten ovalen Spiegel, warf einen missbilligenden Blick zu Iljuschenko, der gerade Schokokrümel von sich wischte, und betrachtete mit Befriedigung ihr Spiegelbild. Das Gesicht straff wie ein Pfirsich. Lange Nerz-Brauen. Mandelschwung der Lider. Ein Blick, der alle in den Bann schlägt.

      »Weshalb also habt ihr euch angeschrien?«, schmatzte Iljuschenko. »Hat er dir ein Kind verweigert?«

      »Er hat mir ja sogar eine Katze verweigert, er hat Allergie. Das heißt, hatte Allergie«, seufzte Semjonowa.

      »Katzen kommen kein einziges Mal vor in der Bibel«, warf Iljuschenko unvermittelt ein. »Hunde vierzehn Mal. Löwen fünfundfünfzig Mal. Katzen kein einziges Mal.«

      »Wirklich?«, wunderte sich Semjonowa. Sie ließ sich wieder auf das Sofa nieder und nestelte an ihrem phantasievoll besticken roten Umhang herum, den ihr Ljamzin aus China mitgebracht hatte. Rot – die Farbe der Aristokraten; wer von den einfachen Leuten rot trug, dem hat man, so heißt es, den Kopf abgeschlagen …

      Iljuschenko verzehrte ein Konfekt, während er den Plafond fixierte, der mit sechsflügeligen Seraphen bemalt war, die inmitten von bauschigen Wolken schwebten.

      »Marina,