Verletzte Gefühle. Alissa Ganijewa. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alissa Ganijewa
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990471142
Скачать книгу
breit die Tür, schaute hinaus, zuckte mit den Schultern und eilte an seinen Arbeitsplatz zurück, wo er mit der Computermaus fahrig nach neuen Nachrichten suchte. Auch Nikolaj hatte seinen Blick auf den Computer gerichtet, auf die Seite des Stadtforums. Man diskutierte den Mord am Minister. Aber er konnte sich nicht konzentrieren, sein Blick war abgelenkt. »Altersfett? – im Handumdrehen weg mit dem ganz gewöhnlichen, günstigen …«, sprang ihn ein grelles pulsierendes Bild am Rand an. »Um mit 65 wie 43 auszusehen, machen Sie sich zur Angewohnheit, 10 Minuten vor dem Schlaf …«, endete unvollständig ein anderes Bild. Überall blitzten hängende Hüften, rosa Warzen und dreifach aufgeblasene Frauenbrüste.

      »Step, es ist ja Mittagspause. Ich habe der Tochter versprochen, gemeinsam zu essen«, sagte Nikolaj schließlich und riss sich vom Bildschirm los. »In einer Stunde bin ich wieder da.«

      Nikolaj zog geschwind seinen Mantel an und ging hinaus auf die Straße. Es war windig, kühl und feucht. Vereinzelt schlugen ihm Tropfen ins Gesicht. Der Himmel war wie in einzelne graue Schwaden zerfetzt. Nikolaj erinnerte sich an Ljamzins verlorenen Blick. Es stimmt also, dass man ihn verfolgt hat. Das war keine Paranoia, ganz im Gegenteil. Oder ist das »ganz im Gegenteil« auch eine Diagnose? Wohl Pronoia. Wenn man an Verschwörer glaubt, die einen nicht vernichten, sondern retten wollen. Es kam ihm sonderbarerweise die Geschichte eines Musiklehrers in Kroatien in den Sinn, der ein Zugsunglück, einen Zwischenfall mit einem Flugzeug und drei Autounfälle überlebt hat. Zweimal hat es bei ihm gebrannt, einmal ist er in eisiges Wasser gefallen. Er stürzte in eine Schlucht und konnte sich an einem Baum festhalten. Eine unglaubliche Rettung.

      Ein einbeiniger junger Mann auf alten Holzkrücken und in Uniform verstellte Nikolaj den Weg. Die unförmigen Gummi-Enden der Krücken steckten im Schlamm, auf der Brusttasche der Jacke trug er ein St.-Georgs-Band, seine von Brandwunden vernarbte Stirn war faltig wie ein Harmonika.

      »Haben Sie eine Zigarette für einen Donbass-Veteranen?«, bat der Einbeinige höflich.

      »Ich rauche nicht«, antwortete Nikolaj, wich achtsam rechts am Veteranen vorbei und ging weiter zu seinem Auto.

      »Hör zu, du Sauhund«, der Veteran stampfte mit seinen Krücken, »während du im Hinterland deinen Arsch gewärmt hast, habe ich unsere gemeinsame Heimat verteidigt, verstanden?«

      »Verstanden«, antwortete Nikolaj gefügig, während er in der Tasche nach dem Autoschlüssel kramte.

      »Ich habe für solche Russen wie dich mein Bein geopfert.«

      »Ich habe Sie nicht darum gebeten«, antwortete Nikolaj.

      »Gib mir etwas, damit ich mir Prothesen leisten kann, guter Mann. Für Medikamente gib mir was! Die Bürohengste haben uns Veteranen im Stich gelassen! Sie haben uns beschissen und sich dann verpisst. Spende ein paar Tausend, hör doch!« Die Stimme des Bettelnden wurde auf einmal ganz gütig und weich.

      Nikolaj stieg schweigend ins Auto, während der Veteran ihm immer lauter hinterherschrie und dabei in wüstes Geschimpfe kippte.

      »Du bist ja um nichts besser als diese Faschisten, du Häuslbrunzer. Ich merk’ mir deine Nummer, du Dreckschwanz, verstanden? Ich bin nicht allein, wir sind viele! Die Motorhaube werden wir dir zerkratzen, du Schwuchtel …«

      Die weiteren Drohungen verloren sich im Knattern des gestarteten Motors. Nikolaj reversierte langsam. »Faschist, Faschist!«, war von Neuem das Geschrei des Veteranen zu hören, und der Wagen fuhr vorsichtig aus dem Hof, in dem noch tief das Wasser vom gestrigen Dauerregen stand. Im Rückspiegel zitterte das Bild des Einbeinigen. »In zehn Jahren«, so dachte Nikolaj, »wird man Gliedmaßen künstlich nachwachsen lassen können, für die, die Geld haben.« Man braucht nur das Bein eines Toten. Als Karkasse. Dann werden Muskelzellen des Empfängers injiziert, es kommt in eine Art Brutkasten, Sauerstoff dazu … Hätte man Ljamzin wiederbeleben können? Künstliche Beatmung. Nikolaj hat es nicht einmal versucht. Vielleicht hat er noch gelebt. Wie soll man das feststellen? Benachrichtigung über einen Todesfall, Paragraph 66 …

      Nach der schlaflosen Nacht arbeitete sein Kopf nur mit halber Kraft. Zu Hause hatte ihn die Frau befragt, warum er so durchnässt war. Er log, dass er das Auto nicht habe starten können und anschieben musste. Einen Impuls geben. Impuls – das ist doch Masse mal Geschwindigkeit? So scheint es. Die Ejakulationsgeschwindigkeit beträgt 50 km/h. Nikolaj blickte auf den zitternden Zeiger des Tachometers, dann hinauf auf die Windschutzscheibe – und bemerkte plötzlich, dass unter dem Scheibenwischer ein gefaltetes Blatt Papier steckte. Er bremste ab, sprang aus dem Wagen und nestelte das Blatt hervor … Ein ganzes A4-Blatt, schwarze Druckerpatrone. In großen Buchstaben stand im Querformat gedruckt: »Mörder«. Nur dieses eine Wort. Nikolaj erstarrte. Wer? Wer hat dieses Blatt angebracht? Er blickte sich verstohlen um. Bei der Hofausfahrt war niemand. Bloß eine müde Mutter zog einen Buben mit Schultasche hinter sich her, und ein Mann mit einem Paket schlurfte mürrisch irgendwo hin. Der Veteran, am Ende der Veteran?

      Nikolaj war perplex, er setzte sich wieder ins Auto und stieg aufs Gas. Seine Hände zitterten am Lenkrad, und für einige Minuten türmte sich in seinem Gehirn eine einzige große Schwärze zusammen. Dann tauchten fetzenweise einige Gedanken auf. Angenommen, den Zettel hat der Einbeinige daruntergesteckt – wer hat ihn dafür angeheuert? Oder tat er es von sich aus? Warum nur hat er ihm kein Geld gegeben? Er hätte ruhig ein wenig großzügig sein können. Aber wenn es nicht der Krüppel war, wer dann? Das heißt, jemand verfolgte ihn.

      Der Zettel flatterte auf dem Beifahrersitz. »Mörder!« Nikolaj überlegte, wie man den Verfasser ausfindig machen könnte. Man sagt, früher habe man von der Schrift auf die Schreibmaschine schließen können. Kann man einfach aufgrund der Tinte den Drucker identifizieren? Bei diesen kriminalistischen Überlegungen wurde Nikolaj immer desperater. Wenn es wenigstens Farbdruck wäre. Er hat gehört, dass Farbdrucker auf jedem Blatt einen Code hinterlassen. Kleine, kaum sichtbare gelbe Punkte.

      Vor ihm hielt ein Trolleybus. Im kaum durchsichtigen Rückfenster schaukelten die verschwommenen Gesichter der Passagiere. Der Fahrer war ausgestiegen und in seiner Warnweste auf die Außenleiter geklettert, um den Stromabnehmer wieder einzurichten. Trolleybusse … In Murmansk gibt es die weltweit am nördlichsten eingesetzten, und die längste Linie befindet sich wo? Auf der Krim? Der Fahrer hat sich erfolgreich mit den Leitungsdrähten herumgeschlagen und ist flott wieder heruntergestiegen. Fahrer – oder Führer, das kommt doch von Anführer, Chef? Oder von woher sonst? Und das aus dem Französischen stammende Chauffeur bedeutet Heizer, hat die Tochter gesagt. Warum Heizer? Eben deswegen, weil die ersten Verkehrsmittel mit Kohle betrieben wurden. Die Eisenbahn wurde vor dem Automobil erfunden … Der Bus kam langsam wieder in Fahrt, und Nikolaj folgte ihm – aus irgendeinem Grund überholte er ihn nicht.

      Er wollte den verdammten Zettel wegschmeißen. Aber wie? Aus dem Fenster? Er langte mit der Rechten auf den Beifahrersitz, wendete das Blatt und schielte darauf. »Mörder!« Noch dazu mit Rufzeichen. Möglicherweise einer der Kollegen? Beljaewa war wütend irgendwohin abgehauen. Nikolaj stellte sich vor, wie sie sich bückt und das Blatt unter den Scheibenwischer steckt. Aber woher wusste sie davon? Nein, das ist doch alles Unsinn, das träumt er. Es träumt ihm. Nikolaj nahm das Blatt, knüllte es mit aller Kraft zusammen und warf es aus dem Fenster, unter die nassen Reifen. Da hörte er seinen Magen laut und fordernd knurren. Aber er sah sich nicht im Stande, stehenzubleiben, durchzuatmen und in ein Café zu gehen, um etwas zu essen, seine Finger zitterten noch zu sehr. »Wer, wer, wer«, murmelte Nikolaj, schon automatisch, dumpf, wie eine Fabriksmaschine, wie ein Maschinengewehr. Immer dasselbe. Immer dasselbe.

      Inzwischen hatte er bemerkt, dass er eben die besagte Strecke fuhr. Er passierte die Kreuzung, an der Ljamzin zu ihm ins Auto gesprungen war, und gleich daneben befand sich der neue Luxusbau, in dem tatsächlich Semjonowa wohnte, mit der der Tote seine amourösen Abenteuer hatte. Und jetzt bewegte er sich Richtung Außenumfahrung, entlang der braunen Pfützen von gestern. Wieder knurrte der Magen. Es verlangte ihn unbändig nach warmer Krautsuppe. »Schau nur, was dort ist …«, dachte Nikolaj, und wusste selbst nicht, was er dort an jenem unseligen Straßenrand sehen wollte. Etwa gar den Leichnam Ljamzins? Gleichzeitig mit Ljamzin ging ihm der dampfende Eintopf durch den Kopf. Krautsuppe und Grütze – zu vielem nütze. Wo Krautsuppe, da auch unsre Truppe. Die Frau kocht keine schlechte, aber er eine noch bessere.