Verletzte Gefühle. Alissa Ganijewa. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alissa Ganijewa
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990471142
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anderer als der Regionalminister für wirtschaftliche Entwicklung. Der nunmehr – vorerst hatte außer Nikolaj niemand eine Ahnung davon – verstorbene Minister.

      Ihm wurde übel und quälend drängte es ihn zur Toilette. Er stand auf und ging raschen, gleichwohl gehemmten Schrittes zum WC.

      2

      »Also, es wurde tatsächlich nichts gestohlen?«, wunderte sich Anetschka, die Sekretärin.

      »Offizielle Kommentare gibt es keine, aber der Journalist von ›Sirene‹, na, wie heißt er gleich, Katuschkin, der schreibt, dass man beim Toten Geldtasche und Telefon gefunden hat. Nur die Scheine sind nassweich geworden«, merkte Stepan an.

      »Von dem, was euer Katuschkin zusammendichtet, muss man die Hälfte abziehen. Warten wir, was in den normalen Nachrichten kommt, dann werden wir es erfahren«, stutzte Beljaewa ihn zurecht, und sie begann geräuschvoll den Heftapparat zu füllen.

      Nikolaj saß gedrückt in einer Ecke des Büros der Beschaffungsabteilung und spitzte seinen Bleistift. Von morgens an erörterten die Kollegen die alptraumhafte Nachricht und drehten und wendeten ein und dasselbe in alle möglichen Richtungen. Die Vorgesetzten hatten sich irgendwo in den oberen Stockwerken eilends zu Beratungen zusammengefunden. Durch den plötzlichen Tod Ljamzins waren große Bauprojekte der Firma bedroht. Die Agenturen waren in Aufregung, im Internet spitzte man die Ohren.

      »Sonderbar, dass er in dieser verlassenen Gegend ganz allein war«, brach es zum wiederholten Mal aus Anetschka hervor.

      »Sonderbar, dass man ihn überhaupt gefunden hat«, erwiderte Stepan eifrig. »Der Kanaldienst kommt da sonst nie hin. Nicht einmal auf dem Hauptplatz haben sie es in drei Jahren geschafft, eine Stelle freizupumpen. Und nun sind sie auf einmal die ganze Stadt abgefahren, um die Auswirkungen des Regens zu begutachten. Hörst du, Kolja? Sie haben sich endlich besonnen. Sonst läge der Minister noch immer am Straßenrand und wär schon von den Hunden zerfressen.«

      Nikolaj stammelte wirr vor sich hin. Beljaewa betätigte wie wild den Heftapparat. Alle in der Abteilung wussten, dass sie Haarausfall hatte. Büschelweise verlor sie die Haare. Sorgfältig verbarg sie die blanken Stellen mit einem Dutt. »Dutte und Perücken, wir kaufen Haare zu Bestpreisen«, stand auf einem Plakat im Lift des Hauses von Nikolaj. Die Tochter erzählte gestern beim Frühstück, dass man früher bei Hof morgens schwarze Perücken trug, tagsüber braune und abends weiße. Kontrastprinzip. Gestern beim Frühstück. Noch vor der Katastrophe … Die rotgeränderten Holzkringel fielen aus dem Spitzer, matt erglänzte die Bleistiftmine.

      »Wie lang ist er denn dort gelegen?«, fragte Anetschka.

      »Zum Teufel, es ist nicht zu fassen, wir haben noch zusammen den Bericht gelesen. Höchstens zwölf Stunden. Mehr wird vorerst nicht bekannt gegeben«, warf Stepan ein, während er im Zimmer hin und her ging. »Was meinst du, Kolja, ist er so gestorben oder hat man ihn ums Eck gebracht?«

      »Er kann auch so gestorben sein …«, murmelte Nikolaj.

      »Kennt ihr den?«, grinste Stepan und fuhr fort, wie immer, ohne die Antwort abzuwarten: »Eine Banane und eine Zigarette streiten sich, wessen Tod schrecklicher sei. Die Banane sagt: ›Mein Tod ist grauenvoll. Man zieht mir die Haut ab und verspeist mich lebendig.‹ Darauf die Zigarette: ›Das ist noch gar nichts. Mir zünden sie den Kopf an, und dann saugen sie am Hintern, damit der Kopf weiterbrennt‹.«

      Stepan wieherte mit krächzender Stimme los. Anetschka wurde rot. Beljaewa presste die Lippen zusammen und rüttelte empört an den Tischladen.

      »Und habt ihr den schon gehört?«, kam Stepan in Fahrt, ohne sie zu beachten. Er ging weiter hin und her, von Ecke zu Ecke. »In der Wohnung eines Mannes tauchte an der Decke ein schwarzer Fleck auf, am nächsten Tag starb der Mann an einem Herzinfarkt. Dann das Gleiche in einer anderen Wohnung – der Bewohner bemerkte einen schwarzen Fleck an der Decke, und am nächsten Tag starb er an einem Herzinfarkt. Und dann tauchte in der Wohnung von Iwanow ein Fleck auf …«

      »Mir reichen diese Witze«, seufzte Anetschka laut auf.

      »Also ein Fleck bei Iwanow«, fuhr Stepan lauter werdend fort. Der ruft bei der städtischen Hausverwaltung an. ›Hallo, ich hab da einen schwarzen Fleck an der Decke. Kann man das richten? Gut. Und was kostet das?‹ Man antwortete ihm etwas. ›Wie viel?‹, fragte Iwanow nochmals – und starb an einem Herzinfarkt.«

      Stepan grunzte wieder vor Vergnügen.

      »Wenn Sie sterben, Stepan, werde ich auch lachen«, sagte Beljaewa in schneidendem Ton, stand auf und ging aus dem Zimmer. Am Gang war lebhaftes Stimmengewirr zu vernehmen, ein lautes Durcheinander von Männerstimmen, durchschnitten von Stöckelschuh-Geklapper. Anetschka sprang zur Tür, trippelte dem Haufen nach, steckte dann den Kopf zur Tür herein, um in düsterem Flüsterton zu verkünden: »Die Semjonowa ist gekommen!« Und verschwand wieder.

      »Also, wenn die Generaldirektorin da ist, heißt das, dass es brennt«, schloss Stepan und setzte sich zu Nikolaj. Der war mit dem Bleistiftspitzen fertig und klimperte nun stumpfsinnig mit den Lidern, während er auf den vor ihm liegenden Tischkalender schaute, auf dem unten die Monate standen und oben unter der Überschrift »Russlands treue Söhne« vor dem Hintergrund goldener Kuppeln Recken in den Sonnenuntergang ritten.

      Stepan blickte zu Nikolaj, seufzte und fragte ihn ganz leise: »Weißt du wohl, dass sie unsere Semjonowa zum Verhör vorgeladen haben?«

      Nikolaj riss es: »Wozu?«

      »Was heißt da, wozu? Ljamzin war ja ihr Liebhaber. Hast du das nicht mitbekommen?«

      Schon eine ganze Zeit lang hatte Nikolaj von solchen vagen Anspielungen und Gerüchten gehört, und dennoch ist es ihm während der ganzen letzten, schlaflosen Nacht kein einziges Mal in den Kopf gekommen.

      »Und weiter?« Er fixierte Stepan.

      »Nun, gestern hat sie ihn anscheinend bei sich erwartet. Ljamzin hat seinen Chauffeur heimgeschickt und ist mit dem Taxi zu ihr gefahren. Und ist auch, so scheint es, dort angekommen. Aber zu ihr hinaufgegangen ist er nicht. Semjonowa hat vergeblich auf ihn gewartet. Angeblich. Vielleicht flunkert sie auch. Jetzt wird sie sich wohl beeilen, die Dokumente zu verbrennen.«

      »Welche Dokumente?«

      »Kolja, stell dich nicht so blöd«, Stepans Geplapper wurde immer schneller und schneller, »warum, glaubst du, haben wir die fettesten Aufträge bekommen? Ljamzin hat alle anderen Angebote mit irgendwelchen Begründungen ausgeschieden. Einmal passten die Fristen nicht, ein andermal die Formalitäten. Und wir blieben als Sieger übrig. Die Eishalle – wir, das neue Spital – wir, die Renovierung des Bahnhofs, bei der wir drei Jahre herumgetan haben – auch unser Auftrag. Und diese Brücke für den Schwerverkehr, du erinnerst dich …«

      »Ja, natürlich. Da hat sich auf einmal herausgestellt, dass der Grund und Boden nicht der Stadt gehört. Der musste schwarz abgekauft werden.«

      »Genau, und wem?«, zwinkerte Stepan verschmitzt.

      »Woher soll ich das wissen.«

      »Der Semjonowa! Auf dem Papier halt dem Ehemann der Schwester. Sie hat also zweimal aus dem Budget scheffeln können. Für das Grundstück und für den Auftrag. Und Ljamzin war dabei behilflich. Er hat aber auch an sich gedacht und sich einen kleinen Kick-Back genehmigt.«

      »Und wieso haben sie ihn bis jetzt nicht zerrissen?«, fragte Nikolaj erstaunt, nachdem er erst so richtig begriffen hatte.

      »Es sieht ja ganz so aus, dass sie ihn eben zerrissen haben. Ljamzin balancierte zuletzt am Abgrund dahin. Unser Abteilungsleiter hat mir heute gesteckt, dass es so Gerüchte gab, man habe den Toten mit, na wie sagt man, mit anonymen Anschuldigungen verfolgt. So nach der Art – wir wissen alles, wir werden alles an die zuständige Stelle weitergeben. Dem Gouverneur berichten. Oder halt so ähnlich. Und da hat er das Sausen bekommen.«

      »Das heißt, der Denunziant hat ihn auch umgebracht?«, stieß Nikolaj hervor.

      Stepan schnalzte mit der Zunge und machte eine abwehrende Handbewegung: »Das sind bloß Gerüchte, und du