Der verschwundene Brief. Eckart zur Nieden. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eckart zur Nieden
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783865069580
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Nervenzusammenbruch treiben zu lassen. Was macht ihr da?“

      „Hannah will den codierten Brief in Braille haben, damit sie miträtseln kann.“

      Mama nickt und setzt sich neben ihrer Tochter auf das Sofa. „Wenn man sich das Elend von diesem Daniel Grüntal vorstellt … Es gab und gibt wohl noch größere Sorgen als meine.“

      Hannah bleibt stehen, noch ehe ihr Stock an ein Hindernis gestoßen ist.

      „Guten Abend, junge Frau!“, sagt eine Männerstimme. Sie klingt etwas piepsig, und Hannah hört auch, dass der Mann etwas kleiner sein muss als sie. „Nicht schlecht! Woher wussten Sie, dass ich Ihnen im Weg stehe? Ich war ganz leise!“

      „Aber nicht der Hund, den Sie da neben sich haben.“

      Dass der Mensch nicht besonders freundlich wirkt, liegt nicht nur an der übertriebenen Höflichkeit seiner altmodischen Formulierungen, sondern auch am Tonfall seiner Stimme.

      „Würden Sie mir jetzt bitte den Weg freigeben?“

      „Einen Augenblick noch, wenn Sie gestatten, Frau Droste.“

      „Kennen wir uns?“

      „Vermutlich kennen Sie mich nicht“, antwortet der Fremde, „aber ich kenne Sie. Habe Sie in den letzten Tagen beobachtet. Aber ich stelle mich gern vor. Blaschke ist mein Name. Hubert Blaschke. Sie sollten sich den Namen gut merken, weil ich Sie bitten muss, Ihrem Bruder Florian einen Gruß von mir zu bestellen. Ach – das ist eigentlich auch nicht nötig, ich kann ihn selbst grüßen, wenn Sie mir sagen, wo ich ihn finde.“

      „Mein Bruder wohnt nicht hier.“

      „Ich weiß. Deswegen brauche ich ja seine neue Adresse.“

      „Warum sollte ich das tun?“ Hannah gibt sich gelassener, als sie sich fühlt.

      „Ganz einfach. Er schuldet mir Geld. Und der Termin für die Rückzahlung war gestern. Darum muss ich ihn daran erinnern und – leider – noch einmal fünf Prozent aufschlagen. Für den angefangenen Monat. So steht es in unserem Vertrag.“

      Hannah überlegt hektisch. Ist es wahr, was der Mann sagt? Und wenn es wahr sein sollte – was durchaus möglich ist, so, wie sie Florian kennt –, soll sie ihm dann seine Adresse geben? Muss sie ihren Bruder schützen? Oder ist es vielleicht sogar gut, wenn er lernt, mit seinen Problemen allein fertig zu werden?

      „Ich warte!“, sagt der Fremde in ironisch freundlichem Ton.

      „Ich kann doch nicht einfach jemandem, den ich nicht kenne …“

      „Es tut mir leid, dass ich mich genötigt sehe, meinem Ersuchen etwas Nachdruck zu verleihen. Und zwar mit der Feststellung, dass ich mich auf jeden Fall schadlos halten werde. Wenn nicht bei meinem treuen Kunden Florian, dann eben bei seiner Verwandtschaft. Zum Beispiel bei seiner Schwester. Oder bei – ist das süße, blonde, kleine Mädchen, das in Ihrem Haus wohnt, nicht seine Tochter?“

      Hannah nickt, zum Sprechen ist sie vor Schreck nicht fähig.

      „Also?“, drängt der Mann. Der Hund neben ihm unterstreicht die Forderung seines Herrchens durch ein Knurren – seine Reaktion auf den plötzlich schärferen Ton. Da dem Mann vermutlich wegen seiner geringen Körpergröße die Autorität fehlt, die er in seinem Geschäft braucht, hat er sich den Hund zugelegt. Als Autoritätsverstärker.

      „Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Herr …“

      „Blaschke. Hubert Blaschke.“

      „Herr Blaschke. Morgen wird mein Bruder kommen. Vielleicht haben Sie mitbekommen, weil Sie doch so gut über uns informiert sind, dass seine frühere Freundin, die Mutter des kleinen Mädchens, gestorben ist. Morgen ist die Beisetzung. Da können Sie ihn selbst sprechen. Um vierzehn Uhr auf dem Friedhof.“

      „Hm“, brummt Blaschke, „hm. Gut, bis dahin werde ich mich gedulden. So, Hektor, dann geh mal etwas zur Seite. Bitte, Frau Droste! Und auf Wiedersehen! Oder sagt man das nicht zu einer Blinden?“

      Hannah antwortet einfach nicht und geht weiter. Mats kommt ihr mit dem Fahrrad entgegen und grüßt im Vorbeifahren. Zu Hause stellt sie fest, dass sie allein ist. Ihre Mutter macht anscheinend einen Spaziergang mit Mia oder tratscht mit einer Nachbarin.

      Sofort nutzt sie die Gelegenheit, Florian anzurufen. Er ist auch gleich am Telefon.

      „Hier ist deine Schwester.“

      „Hallo, Hannah! Ich sage dir gleich: Zur Beerdigung komme ich nicht! Wenn es also darum geht, mich zu beknien, obwohl ich Mama schon abgesagt habe, dann hast du umsonst angerufen.“

      „Du schämst dich echt gar nicht, oder?“

      „Warum sollte ich? Mensch, Hannah, was ist los mit dir! Ich war nur ein paar Monate mit Jenni zusammen. Und das ist schon lange her. Ich habe nichts mehr mit ihr zu tun gehabt, gar nichts. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sie es gern anders gehabt hätte.“

      „Du hast gar nichts mit ihr zu tun? Das stimmt nicht ganz! Ihr habt eine gemeinsame Tochter.“

      „Ich habe für sie gezahlt. Gut, nicht ganz so regelmäßig, aber was ich konnte, habe ich …“

      „Und du meinst, mit Geld … Ach, vergiss es! Da du eh kein Mitgefühl kennst, brauchen wir gar nicht weiter drüber zu reden.“

      „Gut. Kann ich dann auflegen? Oder war noch was Wichtiges?“

      „Ich soll dir noch einen Gruß bestellen.“

      „Ach?“

      „Von Blaschke. Hubert Blaschke. Er müsse leider für den angefangenen Monat noch einmal fünf Prozent aufschlagen, meint er.“

      „Scheiße!“

      „Er hat mich nach deiner Adresse gefragt. Ich habe ihn vertröstet. Aber du kommst übermorgen zur Beerdigung, habe ich versprochen.“

      „Ich habe doch gesagt, ich komme nicht!“

      „O doch, du kommst! Er will sich das Geld von uns holen, wenn du nicht da bist. Und er will weder auf deine blinde Schwester noch auf dein vierjähriges Kind Rücksicht nehmen. Wir haben jedenfalls keine Lust, deine Probleme zu lösen! Wenn du morgen nicht da bist, und zwar rechtzeitig, dann erfährt dein Freund von mir, wie er dich erreichen kann. Und ich vermute, wenn er extra zu dir nach Bremen kommen muss, wird das für dich teurer und auch unangenehmer, als wenn du dich ihm stellst. Und ich denke, deine Firma muss dann auch erfahren, was ihr Mitarbeiter für Verbindungen …“

      „Mann, Hannah! Ich hab keine Ahnung, wie ich das Geld auftreiben soll!“

      „Meinst du, ich wüsste das?“

      „Gibt es denn keine … lass mich überlegen!“

      „Mach, was du willst, Hauptsache, du bist morgen da!“ Sie legt auf.

      Eine Weile bleibt sie still sitzen. Erinnerungen an früher ziehen an ihr vorbei. Wie hat sie Florian vergöttert, als sie noch ein junges Mädchen und er ihr großer Bruder gewesen ist! Und wie sehr hat sie ihn immer bewundert! Es kommt ihr vor, als wäre es gestern gewesen, dass sie ihm mit den Händen über das Gesicht fuhr, um zu fühlen, wie er aussieht. Oder wie er sie auf die Schaukel im Garten gesetzt und angestoßen hat und sie das Gefühl hatte, als flöge sie in die Wolken. Oder wie er ihr, stockend und mit vielen Fehlern, als er im zweiten Schuljahr war, Geschichten vorgelesen hat. Oder wie er ihr Mutters altes Puppenhaus beschrieben und die einzelnen Möbel in die Hand gegeben und erklärt hat.

      Wann hatte sie eigentlich aufgehört, diese Verbindung? Als Florian ein Teenager wurde, ja, aber warum? Hing es damit zusammen, dass ihr Vater, der damals noch lebte, zu streng war und Florian sich dagegen auflehnte? Nun, übertrieben streng war er eigentlich nicht, aber er hatte „christliche“ Prinzipien, denen Florian sich nicht unterwerfen wollte. Bei ihrer Mutter war der Glaube schon immer mehr Sache des Herzens gewesen,