Der verschwundene Brief. Eckart zur Nieden. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eckart zur Nieden
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783865069580
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knurrt Mats. „Ich würde sagen: oberflächlich. Und egoistisch.“

      Hannah macht mit dem Kopf eine Bewegung zur Tür hin. „Wer war die Frau? Auch noch Polizei?“

      „Das war jemand vom Jugendamt. Wegen Mia. Mama will, dass sie erst mal bei uns bleibt. Die Frau war auch einverstanden.“

      „Hat Mama schon mit Florian telefoniert?“

      „Sie hat’s versucht. Er war nicht zu erreichen.“ Mama und Mia kommen herein. Das Kind hat verweinte Augen. Es kommt auf Hannah zu, schmiegt sich an sie und sagt: „Meine Mama ist gestorben.“

      Hannah streicht ihr über das Haar. „Ja, das hat mir Mats gerade gesagt. Es tut mir so leid, Mia!“

      „Aber sie ist jetzt im Himmel, sagt Oma.“

      „Da hat Oma bestimmt recht. Und weißt du, Mia, wenn deine Mama dich jetzt nicht mehr liebhaben kann, werde ich dich doppelt so liebhaben.“

      Das Mädchen birgt sein Gesicht in Hannahs Kleid. Seine Oma stellt sich daneben und legt beiden, Tochter und Enkelin, die Hand auf die Schulter. Weil sie mit Hannah keine Blicke tauschen kann, ist sie es gewohnt, sie öfter zu berühren. Jetzt passt das besonders.

      Hannah stellt mit erstaunlichem Geschick Teller auf den Tisch.

      „Mia, holst du Wurst und Käse aus dem Kühlschrank?“

      Mia setzt Kater Melanchton ab und hilft. „Ich lege auch die Messer hin!“, sagt sie, als Hannah tastend nach den richtigen Stellen für das Besteck sucht.

      Mats fragt: „Wo ist Mama?“

      „Weiß nicht“, antwortet Hannah. „Ist sie nicht im Wohnzimmer?“

      „Sie ist oben, glaube ich“, sagt Mia.

      Mats geht die Treppe hinauf. „Mama?“ Als er sie nicht findet, ruft er hinunter: „Hier ist sie nicht.“

      Da hört er ihre Stimme. „Suchst du mich? Ich bin hier oben auf dem Dachboden!“

      Mats steigt die schmale Treppe hinauf. Seine Mutter sitzt auf einer alten Kiste. „Was machst du denn hier?“

      Sie schüttelt nur leicht den Kopf, um anzudeuten, dass sie die Frage nicht beantworten will. Für eine Sekunde schießt Mats der Gedanke durch den Kopf, dass dies der ideale Ort wäre, sich mit einem Strick und dem Dachbalken dort das Leben zu nehmen. Vielleicht auch die geeignete Situation. Aber dann verwirft er den Gedanken schnell. Nein, Mama niemals!

      „Hannah deckt schon den Abendbrottisch.“

      „Ich komme gleich.“

      Mats schaut sie schweigend an, da entschließt sie sich, doch noch die Frage zu beantworten. „Ich wollte eure alten Spielsachen suchen. Wenn Mia jetzt bei uns bleibt – vielleicht ist da was für sie dabei. Aber ich habe nichts gefunden. Dann habe ich mich kurz hier hingesetzt, um mich auszuruhen vom Bücken unter der Dachschräge, und da dachte ich: Es ist hier der beste Ort und der beste Zeitpunkt, mit Gott über alles zu reden. Das tut mir gut. Ich weiß gar nicht, wie lange ich schon hier sitze. Wie spät ist es denn?“

      „Kurz nach sechs. Du meinst, du hast gebetet? Hier auf dem staubigen Dachboden?“

      „Hier ist es schön ruhig. Und den Staub sehe ich nicht, wenn ich die Augen schließe.“

      „Hast du dich bei Gott beschwert?“

      „Beschwert?“

      „Ja. Hast du dich beschwert über das, was du alles mitmachen musst? Eine blinde Tochter geboren, dann hast du deinen Mann verloren durch diesen sch… Krebs, dann dass dein ältester Sohn – sagen wir: Wege geht, die du nicht gut findest. Und sie sind es ja auch nicht. Und jetzt bringt sich die Mutter deiner Enkelin einfach um. Da kann man schon mal an der Liebe Gottes zweifeln. War es das?“

      „Ich habe Gott nicht angeklagt, Mats. Ich habe bei ihm Trost gesucht.“

      Mats bläst Staub von der Kiste auf dem Platz neben seiner Mutter und setzt sich. „Und? Hast du welchen gefunden?“

      „Die Frage klingt so, als glaubst du nicht, dass man bei Gott Trost finden kann. Doch, kann man. Sicher gibt es Menschen, die das Vertrauen verlieren, wenn sie schwere Dinge erleben. Mich treiben die Schicksalsschläge eher zu ihm hin. Weil ich da … wie soll ich sagen …?“

      „Trost finde.“

      „Ja. Und ruhig werde. Und geborgen bin.“

      Eine Weile schweigen sie beide. Dann fragt Mats: „Hast du Spielsachen gefunden?“

      „Nichts für ein kleines Mädchen. Aber ich werde später noch weitersuchen.“

      „Was ist denn das da hinten für ein Karton? Da guckt ein Papierdrachen raus. Oder was ist das für ein Ding?“ „Das sind uralte Sachen. Von deinem Opa.“ Mats steht auf und geht in die Ecke mit den ältesten Kisten. In dem Karton findet er Spielsachen aus Holz und Blech, aus einer Zeit, in der es noch keinen Kunststoff gab. Automodelle und eine Dampfmaschine, die offenbar richtig befeuert werden konnte und sich bewegte. Das muss damals echt was Besonderes gewesen sein. Darunter liegen Stapel von verschiedenen Heften und Bücher. Er liest die Titel. „Die Schatzinsel“, „Addi, der Rifleman“, „Wettflug der Nationen“. Obenauf liegt ein noch verschlossener Brief.

      Mats nimmt den Umschlag und kommt damit zu seiner Mutter zurück. „Ein ungeöffneter Brief.“

      „Ach ja, ich erinnere mich. Wir haben ihn aus Respekt nicht geöffnet. Aber das hätten wir inzwischen natürlich tun können. Haben’s nur vergessen.“

      „Herrn Hans Droste“, liest Mats.

      „Das war dein Großonkel. Der ältere Bruder deines Großvaters Klaus. Er wurde mit sechzehn Jahren als Luftwaffenhelfer eingezogen, zur Flak. Davon ist er nicht wiedergekommen.“

      „Ja, das hat Papa uns erzählt.“

      „Kurz nachdem er fort war, ich meine, es wäre schon am Tag danach gewesen, aber so genau weiß ich das nicht …“

      „… kam dieser Brief.“

      „Kam dieser Brief an ihn. Seitdem liegt er bei den alten Sachen.“

      „Absender ist ein L. Schultheiß. Oder eine L. Schultheiß, der Schrift nach könnte es eher eine Frau sein.“

      Hannah ruft von unten: „Seid ihr da oben?“

      „Ja, wir kommen!“, ruft Anette Droste und steht auf. Mats folgt ihr und sagt: „Ich nehme den Brief mal mit runter. Wir sollten ihn aufmachen. Nach so langer Zeit müssen wir das Postgeheimnis unseres längst verstorbenen Großonkels nicht mehr so ernst nehmen.“

      Als sie im Wohnzimmer sitzen und Mats gerade den Brieföffner sucht, kommt Hannah herein. „Ich habe in der Küche gedeckt. Kommt, wir haben schon Hunger, Mia und ich.“

      „Sekunde noch“, sagt Mats. „Wir haben einen uralten Brief an unseren Großonkel gefunden, den noch nie jemand gelesen hat.“

      „Von wem?“

      „L. Schultheiß. Keine Ahnung, wer das ist.“

      „Lies mal vor!“

      Mats zieht drei Blätter aus dem Umschlag und wirft einen ersten Blick darauf. Komisch – auf zwei Blättern steht nur eine schier endlose Folge von Buchstaben. „Nur Buchstaben. Die beiden Blätter voll. Nur große Buchstaben, ohne Absätze, ohne Satzzeichen.“

      „Eine Geheimschrift?“

      „Ein richtiger Brief ist auch dabei.“

      „Lies ihn mal vor!“, bittet seine Mutter.

      „Kassel, den 17. 3. 1941. Lieber Hans Droste. Ihre Adresse habe ich