Körper und Emotionen sind eng miteinander verbunden. Häufig zeigen sich bestimmte Emotionen schneller als körperliche Empfindungen denn als bewusst wahrgenommene Emotionen. Das Herz rast, Der erste Schritt zum Mitgefühl: sich Dukkha bewusst zuwenden.die Hände sind kalt oder feucht, deine Schultern verspannen sich. Erst im nächsten Schritt erkennst du, dass ein unangenehmes Gefühl dahinter steckt. Versuche jetzt, es genauer zu spüren! Auf diese Weise wirst du vertraut mit deinen Gefühlen. Um dich zu spüren, musst du dich verlangsamen. Nimm dir Zeit und gönne dir Pausen. Und dann versuch, dir deiner Gefühle bewusst zu werden und sie für einen Moment einfach mal so sein zu lassen, wie sie gerade sind. Du wirst sofort spüren, dass dir das gut tut.
So bist du mit der Zeit auch gewappnet, immer schwierigere Gefühle zuzulassen. Mitgefühl bedeutet, dem Dukkha nicht auszuweichen. Mitgefühl für dich selbst beginnt also damit, dass du nicht ausweichst, wenn es weh tut. Auch dazu musst du dich immer wieder aktiv entschließen: »Wenn es das nächste Mal weh tut, dann lasse ich es zu.«
Die Versuchung auszuweichen ist groß. Unsere schnelllebige Zeit bietet uns viele Möglichkeiten, einfach zum nächsten Tagesordnungspunkt überzugehen oder uns abzulenken. Schon spürst du das Dukkha nicht mehr und glaubst, es sei weg. Das ist es natürlich nicht! Es ist nur nicht mehr offenkundig und strahlt stattdessen im Verborgenen seine negative Kraft aus. Unbemerkt vergiftet es deine Lebensfreude und deine Klarheit.
Die Aufgabe besteht also darin, nicht so schnell auf das Dukkha verzichten zu wollen. Diese Formulierung mag provozierend wirken: auf Dukkha nicht verzichten wollen. Ist es nicht natürlich, dass wir Leid so schnell wie möglich hinter uns lassen möchten? Darauf nicht verzichten wollen – ist das nicht Masochismus?
Nein, es ist das genaue Gegenteil. Es ist der Zugang zum Mitgefühl. Ich sage nicht: »Lasst uns das Dukkha verstärken oder willentlich herbeiführen.« Ich sage: »Nicht vorschnell auf das vorhandene Dukkha verzichten wollen.« Indem du es spürst, annimmst und verstehst, kannst du es verwandeln und hinter dir lassen. Das ist das Feuer der Alchimisten, das Feuer, in dem Schrott zu Gold wird.
Die Bedürfnisse hinter den Gefühlen
Je klarer du dich selbst wahrnehmen kannst, umso leichter wird Mitgefühl sich entfalten. Das liegt daran, dass Mitgefühl Teil deines tiefsten Wesens ist. Du musst es nicht lernen; es ist in dir bereits vorhanden. Zugang bekommst du über das bewusste Erspüren deiner Gefühle. Der nächste Schritt ist dann herauszufinden, welche Bedürfnisse sich hinter diesen Gefühlen verbergen. Denn hinter jedem Gefühl steht ein Bedürfnis.
Sich vom Gefühl zum Bedürfnis gewissermaßen durchzufragen – das ist ein Vorgehen, das der US-amerikanische Psychologe Marshall Rosenberg in seinem Modell der Gewaltfreien Kommunikation2 formuliert hat. Diese Methode ist eine große Hilfe, denn sie lässt Klarheit entstehen: »Da sind bestimmte Gefühle in mir, dahinter stecken bestimmte ungestillte Bedürfnisse.« Oder: »Da sind freudige Gefühle in mir, dahinter stecken bestimmte gestillte Bedürfnisse.«
Bist du dir im Klaren über die jeweils ungestillten Bedürfnisse, hast du die Wahl: Du kannst dich um ihre Erfüllung kümmern oder sie ruhen lassen. Du kannst aus dem Erleben deiner Bedürfnisse Wünsche formulieren. Auf die Erfüllung unerfüllter Bedürfnisse zu bestehen würde aber Mitgefühl blockieren und damit Schwierigkeiten vermehren. Viele Bedürfnisse müssen nicht erfüllt werden – aber alle wollen gehört werden.
Im nächsten Schritt kannst du auch im Umgang mit anderen Menschen so vorgehen. Wie du handeln auch sie aufgrund bestimmter Bedürfnisse. Mit Einfühlung kannst du versuchen herauszufinden, Wenn du darauf bestehst, dass deine Bedürfnisse erfüllt werden, blockierst du Mitgefühl.welche Bedürfnisse sie sich dir gegenüber erfüllen wollten. Du kannst erkennen, was geschieht, wenn Menschen auf der Befriedigung ihrer Bedürfnisse beharren und wenn sie untaugliche Strategien wählen. Aber du behältst weiter die Gemeinsamkeiten im Blick, verwechselst den Menschen nicht mit seinen Handlungen und kannst mitfühlend statt wütend reagieren.
Manchmal werfen mir in meiner Arztpraxis Patientinnen vor, etwas falsch gemacht zu haben: Falsche Diagnose, falsche Therapie, zu spät gehandelt, zu früh gehandelt – da gibt es viele Möglichkeiten. Natürlich lassen mich Vorwürfe nicht unberührt. In solchen Momenten frage ich mich: »Was steckt hinter den Vorwürfen?« Vermutlich das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit. Das kann ich verstehen, und ich brauche meinerseits nicht abweisend zu reagieren, um mich zu schützen.
Genau so können wir mit uns selbst umgehen, wenn wir gerade mal wieder kein gutes Haar an uns lassen. Erinnere dich an dieses Vorgehen, wenn du das nächste Mal Wut empfindest oder Angst hast: »Was brauche ich? Was ist mein Bedürfnis?« Vielleicht Sicherheit, vielleicht Ehrlichkeit, vielleicht Nähe. »Und was ist mein Wunsch?« Schon bist du in Kontakt mit dir. Es bedeutet nicht automatisch, dass dir dein Wunsch erfüllt werden kann. Aber du erkennst jetzt, dass du die Wahl hast, ob und wie du reagieren willst. Auf diese Weise verlieren die Emotionen ihre Macht über dich, und du wirst nicht so schnell etwas tun, was du hinterher vielleicht bereuen würdest.
Deine Kellerkinder kennenlernen
Ohne Einfühlung in die Innenwelt werden die alten Muster in dir aktiv bleiben und neue Wege verstellen. Du wirst weiter deine Sicherheit in Aktivitäten suchen, versuchen Anerkennung für Leistung zu bekommen. Du wirst dann nicht erkennen können, dass es noch andere Möglichkeiten gibt. Die spirituelle Praxis ist wie eine Entdeckungsreise und zugleich ein schöpferischer Prozess: Ich entdecke, erforsche und gestalte.
Vielleicht gibt es in dir ein Muster von Selbstmisstrauen. Wenn dann andere ein Urteil über dich fällen, übernimmst du es: »Ja, du hast Recht, ich bin unmöglich. Ich bin ein schlechter Vater / eine schlechte Mutter / eine schlechte Partnerin / eine schlechte Arbeitskraft.« Und dann strengst du dich an, um ihrem Bild zu entsprechen und gut beurteilt zu werden. Und wie fühlst du dich dabei? Du spürst vermut lich den Druck des Urteils und die innere Leere. Vielleicht beginnst du nun sogar noch, dich selbst zu beschimpfen, weil du schon wieder deinem alten Muster gefolgt bist.
Das ist genau die Situation, in der es gilt, Mitgefühl mit dir zu entwickeln! Indem du nicht ausweichst, sondern das alles aushältst: die Leere, den Ärger und die Angst – und deine Bedürfnisse nach Akzeptanz und Wertschätzung. So entziehst du den alten Strukturen die Nahrung. Schon wird diese gnadenlose innere Stimme leiser. Und du bemerkst, dass du auch ganz anders reagieren könntest.
Auf diese Weise kommst du in Verbindung mit deinen Kellerkindern. Das sind die Teile deiner Persönlichkeit, die in den Keller gesperrt worden sind. Du hast sie bisher nicht wieder herausgelassen. Lange Zeit mussten sie im Dunkeln leben. Und wie heißen diese Kellerkinder? Sie heißen vielleicht »die Ängstliche« oder »der Scheue«, »die Unsichere« oder »der Kindliche«, »die Sinnliche« oder »der Traurige«. Die Kellerkinder nehmen Einfluss auf dein Verhalten, steuern deinen Alltag mit, aber lange durften sie sich nicht zeigen.
Jetzt – in der Wärme des Mitgefühls – trauen sie sich langsam ans Licht, ins Licht des Bewusstseins. Sie kommen in ihrem eigenen Tempo die Treppe herauf, langsam und vorsichtig, Schritt für Schritt. Nur wenn du geduldig auf sie wartest, zeigen sie sich mehr und mehr. Wenn du sie ins Licht des Bewusstseins zwingen willst, dann werden sie sofort wie scheue Tiere wieder verschwinden.
Alles nicht so einfach
Sicherlich, sich dem Dukkha zu stellen ist nicht leicht. Zweifel, Unsicherheit und Mutlosigkeit können aufkommen. Sie werden genährt vom Verstand, von den Gedanken, von dieser inneren Stimme, Wer nur sieht, was er nicht hat, übersieht, was er hat.die dich dauernd beurteilt – und häufig so hart! Diese vielen verneinenden und bewertenden Gedanken, dieses Sich-Vergleichen mit anderen. Gib dem Verstand nicht so viel Energie! Überlass ihm nicht so viel Macht! Versuche stattdessen, der unerschöpflichen Kraftquelle des Mitgefühls mehr und mehr Raum zu geben.
Auch die ständige Suche nach Besserem blockiert immer wieder