Mit anderen Worten: Wir leben ein Leben wie auf einer Wippe – mal hoch, mal runter. Unsere Stimmungen und Gefühle sind dabei abhängig vom äußeren Geschehen und unserem Körper. Wir lassen zu, dass die Außenwelt unsere Innenwelt bestimmt, und glauben, dass wir im Außen Erfüllung finden könnten.
Die Wurzeln dieser Außenorientierung reichen zurück in die frühe Kindheit. Als du ein Baby warst, wurden deine körperlichen Bedürfnisse von deiner Mutter gestillt. War sie ein liebevoller Mensch, ging es dir gut. Gelernt hast du dabei: Erfüllung kommt von außen. Dabei hatte das Außen schon damals nur Vergängliches zu bieten.
Trotzdem versuchst du weiterhin, deine Bedürfnisse über die Sinne in der Außenwelt zu stillen. Dauerhafte Erfüllung ist nicht im Vergänglichen zu finden.Die Bedürfnisse sind mittlerweile feiner und verzweigter, und du erlebst täglich vielerlei Sinneskontakte. Sie alle sind von verschiedenen Bedingungen abhängig und vergänglich. So machst du bei dem Versuch, deine Sehnsucht zu stillen, immer wieder die Erfahrung von Verlust und Enttäuschung. Doch deine Sehnsucht ruft nach dauerhafter Befriedung. Du strebst nach Erfüllung bis zu deinem letzten Tag.
Bei meiner Arbeit als Frauenarzt in Berlin-Kreuzberg erlebe ich häufig, wie Patientinnen plötzlich in große Schwierigkeiten geraten. Manchen muss ich mitteilen, dass ihr Kind in ihrem Bauch gestorben ist oder dass es behindert sein wird. Andere erfahren von mir, dass sie an Krebs erkrankt sind. Und wieder andere erzählen mir, dass der Vater ihres ungeborenen Kindes das Weite gesucht hat und sie nun alleine dastehen.
Es gibt – vereinfacht gesagt – zwei Arten von Reaktionen auf solche Hiobsbotschaften. Die einen Menschen geraten ins Wanken, erleben große Angst und fühlen sich ihrer Situation hilflos ausgeliefert. Die anderen kommen nach einer kurzen Phase der Irritation schnell wieder ins Gleichgewicht. Sie erleben sehr bewusst, was ihnen geschieht, können es akzeptieren und besonnen darauf reagieren.
Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Reaktionen habe ich mich gefragt: »Was zeichnet Menschen aus, die auch in schwierigen Situationen nicht den Halt verlieren? Was trägt, Eine Kraftquelle hilft, Schwierigkeiten standzuhalten. Sie sollte unabhängig sein von äußeren Bedingungen.wenn’s drauf ankommt?« Ich fand heraus, dass solche Menschen über Kraftquellen verfügen. Bei den meisten haben diese mit spiritueller Praxis zu tun: »Ich bin gläubig«, antworteten sie mir auf meine Nachfrage, »Im Gebet komme ich zur Ruhe.« Oder: »Ich meditiere.« Auch die Verbindung mit der Natur ist für manche eine wertvolle Hilfe.
Was zeichnet eine Kraftquelle aus? Das Wichtigste: Sie muss möglichst jederzeit zugänglich sein und sollte möglichst wenig von äußeren Faktoren abhängen. Eine Urlaubsreise kann mir zwar helfen, Kraft zu schöpfen – aber wenn ich schwer erkranke oder finanziellen Ruin erlebe, bleibt mir bestenfalls die angenehme Erinnerung. Wenn ich meine Kraft aus der Gartenarbeit schöpfe, dann aber plötzlich auf einer Intensivstation liege, ist mir der Zugang zur Kraftquelle nicht möglich. Für manche Menschen ist auch der Körper eine Kraftquelle, sie trainieren ihn im Fitnessstudio und sind stolz auf ihn. Aber der Körper wird mit der Zeit zwangsläufig seine Kraft verlieren, er wird altern und krank werden. Sehr viele Menschen sagen mir: Meine Familie ist meine Kraftquelle. Es ist natürlich schön, aus dem Familienleben Kraft zu schöpfen, aber was ist, wenn die Familie bei einem Unfall ums Leben kommt? Dann ist im selben Moment die Kraftquelle gestorben, die ich jetzt so dringend bräuchte.
Meine Patientinnen, die in ihren Krisen gut zurechtkamen, hatten ihre Kraftquellen schon vorher gefunden. Die Kraftquellen gehörten ganz selbstverständlich zu ihrem Leben. Nur deswegen hatten sie Zugriff darauf, als es hart auf hart kam. Wir alle tun gut daran, die leichteren Zeiten im Leben zu nutzen, um unsere Kraftquellen zu erschließen und den Weg dorthin zu ebnen, damit sie stets gut erreichbar sind.
Der Weg nach innen beginnt damit, dass wir im Alltag häufiger innehalten. »Wer innehält, erhält innen Halt«, heißt es im Tao Te King, dem Weisheitsbuch des Taoismus. Anders formuliert: Innehalten ermöglicht dir, dich aus äußeren Aktivitäten zurückzuziehen und zu verstehen, was in dir geschieht. So kannst du Gefühle rechtzeitig erkennen, Verhaltensmuster durchschauen und die Stärke entwickeln, die in dir liegt.
Ich selbst habe eine schwere Krankheit erlebt und kenne finanzielle Sorgen aus eigener Erfahrung. »Wer innehält, erhält innen Halt.«Familiäre Konflikte sind mir nicht unbekannt und auch in unserer buddhistischen Gemeinschaft in Berlin erlebe ich manchmal Unverständnis und persönliche Enttäuschung. All diese Situationen begreife ich als wichtige Momente der Praxis. Ich finde meine Kraft beim Buddha und seiner Lehre.
Der Buddha bedeutet für mich vollkommene Klarheit, grenzenlose Liebe und annehmende Gelassenheit. Die Anlagen zu diesen Qualitäten finden sich in jedem Menschen. Die Lehre des Buddha bietet eine unvergleichliche Anleitung, sie zu entwickeln – zeitlos und für jeden praktikabel. Auch du kannst den Buddha in dir wecken!
Aus meinen Erfahrungen entstand im Lotos-Vihara- Meditationszentrum ein Vortragszyklus zum Thema Kraftquellen. Schülerinnen und Schüler haben die darin geschilderten Anregungen als hilfreich empfunden. So haben wir uns schließlich entschieden, aus diesen Vorträgen ein Buch zu machen. Dieses Buch hältst du nun in den Händen. Möge es dir dabei helfen, die unerschöpfliche Kraft in dir selbst zu erschließen.
Sich auf die Freude ausrichten
Im Buddhismus ist oft von Freude die Rede. Freude ist ein Zustand, in dem Leid kaum oder gar nicht spürbar ist. Freude können wir dementsprechend erleben, wenn wir das Leiden auflösen. Darauf zielt die Lehre des Buddha. Er hat es ganz klar formuliert: »Ich lehre nur eines, früher wie heute: das Leiden und das Ende des Leidens.«1
Jeder von uns hat schon Freude erlebt und sie wieder verloren. Vielleicht gehörst du zu den vielen Menschen, die glauben, Freude habe mit bestimmten Umständen zu tun, mit Ereignissen und Erlebnissen. Möglicherweise hast du aber auch von spirituellen Lehrern gehört, die versichern: »Freude ist möglich, ohne dass etwas Erfreuliches geschieht. Einfach nur, weil wir die Freude bereits in der Tiefe in uns tragen.« Dieses Potenzial zu entdecken bedeutet nicht nur große Erleichterung, sondern wir erschließen uns so auch eine wichtige Kraftquelle. Freude macht uns stark und unternehmungslustig. Der Buddha empfiehlt uns sehr, uns um Freude zu bemühen, denn sie ist eine wichtige Grundlage unserer spirituellen Entwicklung.
Leider fällt es uns immer wieder schwer, dieses Potenzial auszuschöpfen. Ein durch und durch freudvolles Leben ist für die meisten Menschen schwer vorstellbar. Wir sehen auf unsere vielfältigen Schwierigkeiten und kämpfen dagegen an, so gut wir können. Vielleicht empfinden wir sie als Pech oder als Strafe oder wir glauben, sie durch Ungeschicklichkeit selbst verschuldet zu haben. Schwierigkeiten können uns lähmen und bedrücken. Doch sie können uns auch bewusster werden lassen und eine ganz neue Perspektive ermöglichen.
Schwierigkeiten als Signal nehmen
Siddhartha, der später zum Buddha, zum Erwachten, wurde, machte sich auf den Weg, weil er erkannt hatte, dass er wie alle Menschen altern, krank werden und sterben würde. Alter, Krankheit und Tod sind Götterboten.Ohne diese schmerzhafte Erkenntnis hätte er nicht begonnen zu praktizieren und wäre nicht erleuchtet worden. Nachdem er zum Buddha geworden war, hat er deshalb Krankheit, Alter und Tod als Götterboten bezeichnet, die uns eine wichtige Botschaft überbringen.
In unserem Zentrum in Berlin gibt es eine Meditationsgruppe von Menschen mit Krebserfahrung. Bei manchen von ihnen liegt die Krankheit bereits etwas zurück, sie haben Therapien abgeschlossen und es geht ihnen gesundheitlich wieder viel besser.
Sie alle berichten, dass sie die Erfahrungen, die sie aufgrund ihrer Krankheit gemacht haben, nicht mehr missen wollen. Sie haben sie als Bereicherung erlebt. Diese Menschen haben erkannt, dass ihr Krebs