Neben dieser Einsicht in die Unbeständigkeit gibt es noch etwas, das sich laut Überlieferung in Shakyamunis erleuchtetem Geist entfaltet hat: das Miteinander-Verbundensein von allen Dingen. Das Universum und alles in ihm ist im ständigen Fluss – entstehend und endend, erscheinend und verschwindend, in einem niemals endenden Zyklus der Veränderung begriffen, der dem Gesetz der Kausalität unterliegt. Alles Vorhandene folgt diesem Gesetz von Ursache und Wirkung und folglich kann nichts unabhängig von anderem Vorhandenen existieren.
Dieses buddhistische Konzept der Kausalität wird auch »abhängiges Entstehen« genannt. Shakyamuni erwachte zu diesem ewigen Gesetz des Lebens, das das gesamte Universum durchdringt, zu diesem mystischen Aspekt des Lebens, in dem alles im Universum miteinander verbunden ist und Einfluss aufeinander hat in einem nicht endenden Zyklus von Geburt und Tod.
Das Wesentliche von Shakyamunis Erleuchtung wird in den Vier Edlen Wahrheiten erklärt, die lauten: 1) Alles Dasein ist Leiden; 2) Leiden wird verursacht durch selbstsüchtiges Begehren; 3) das Auslöschen von selbstsüchtigem Begehren führt zum Ende des Leidens und zum Erreichen des Nirwana; und 4) es gibt einen Weg, der zu dieser Auslöschung führt, nämlich die Disziplin des achtfachen Pfades. In diesen frühesten Aussagen können wir bereits erkennen, dass der Prozess, der zum absoluten Glück führt und uns von den Leiden des Lebens befreit, als Weg oder Reise angelegt ist.
Unwissenheit vertreiben und zu einer richtigen Sichtweise gelangen – das ist das Kernstück der buddhistischen Ausübung. Es ist auch die Triebkraft hinter einer dreitausend Jahre andauernden Suche – beginnend mit Shakyamuni – nach einem Fahrzeug, nach einer klar erkennbaren Methode, die den buddhistischen Ausübenden diesen Weg zum Ende von Leid und zum Erreichen des absoluten Glücks beschreiten lässt. All die vielen buddhistischen Schulen und Ausübungen sind in dem Bemühen entstanden, ein solches Fahrzeug zu erschaffen.
Nach seinem Erwachen blieb Shakyamuni eine Zeit lang unter dem Bodhi-Baum sitzen, in einem Zustand voller Freude. Als er danach wieder in die Welt trat, plagte ihn jedoch bald der Gedanke, wie schwierig es sein würde, sein Erwachen zum Gesetz des Lebens den Mitmenschen zu vermitteln. Er war zu einem Verständnis vorgedrungen, das weit über dem lag, was selbst die fortgeschrittensten spirituellen Sucher seiner Zeit erlangt hatten.
Daher bereitete er seine Zuhörer zunächst einmal darauf vor, indem er sie in leicht verständlichen Gleichnissen und Sinnbildern unterwies. So erweckte Shakyamuni Schritt für Schritt diejenigen, die er lehrte. Gleichzeitig aber behielt er sein letztendliches Ziel im Sinn: allen Menschen zu zeigen, dass sie die Buddhaschaft besitzen.
So lautet beispielsweise eine markante Stelle aus dem Lotos-Sutra:
Ständig richte ich meinen Sinn darauf,
wie ich die Lebewesen
dazu bringen kann,
in die unübertroffene Weisheit einzutreten,
damit sie schnell den Körper eines Buddha
verwirklichen können.4
Keine leichte Aufgabe. Shakyamuni verbrachte die nächsten vierzig Jahre damit, seine leidenden Mitmenschen so zu lehren, wie es für deren Verständnisfähigkeit am passendsten war. So gesehen wird klar: Die Vorstellung, der Buddhismus sei eine spezielle Domäne heiliger Männer, die auf Berggipfeln meditieren, ist schlicht falsch.
Shakyamuni hatte seine Lehren niemals nur für eine isolierte Personengruppe hinter Klostermauern angelegt.
Alles an den historischen Belegen deutet darauf hin, dass er einen breiten Zugang zu seinen Lehren schaffen wollte, sodass sie von gewöhnlichen Männern – und Frauen – angewendet werden konnten. Seine einzelnen Lehrreden wurden zusammengetragen; daraus entstanden schließlich die sogenannten vierundachtzigtausend Lehren, die, wie die Lehren von Jesus, über Jahrhunderte hinweg interpretiert und reinterpretiert wurden. Das eigentliche Problem für Buddhisten bestand viele Jahrtausende lang nicht so sehr in dem, was der Buddha gesagt hatte, sondern in der Frage, wie man seine Lehren in die Praxis umsetzte. Wie man eigentlich die Erleuchtung des Buddha erlebt. Wie man teilhat an dessen transzendenter Weisheit. Wie man selbst ein Buddha wird.
Die Straße zur Erleuchtung
Heute gibt es zahlreiche Schulen des Buddhismus, vielleicht sogar Tausende. Der britische Gelehrte Christmas Humphreys schrieb einmal: »[Den Buddhismus] zu beschreiben ist so schwierig, wie London zu beschreiben. Ist es Mayfair, Bloomsbury oder die Old Kent Road? Oder ist es der kleinste gemeinsame Nenner all dieser Teile? Oder alles zusammen und noch etwas mehr?«
Als die buddhistische Philosophie ihre sanften Verbreitungswege nahm, hinaus aus Indien, nordwärts durch China und Tibet, südwärts nach Thailand und Südostasien, da saugte sie die dortigen religiösen Sitten und Glaubensvorstellungen auf und wurde ihrerseits wieder von ihnen beeinflusst.
Der Buddhismus, der sich Richtung Tibet, China und schließlich nach Korea und Japan verbreitete, wurde Mahayana genannt, was »großes Fahrzeug« bedeutet. Und jener Buddhismus auf der Südroute Richtung Südostasien und Sri Lanka wurde Hinayana genannt, das »geringere Fahrzeug«, ein abwertender Begriff, den die Mahayana-Anhänger im Munde führten.
Die Hinayana-Schulen gründeten sich auf die frühen Lehren von Shakyamuni und sie vertraten daher typischerweise einen strengen, äußerst fein geregelten Verhaltenskodex, der auf das Erlangen der eigenen persönlichen Erlösung angelegt war. Die einzige heutige Hinayana-Schule ist Theravada, die »Lehre der Älteren«.
Die Mahayana-Schulen betonten, der Buddhismus müsse ein Weg des Mitgefühls sein, der ganz gewöhnliche Menschen die Erleuchtung erlangen ließe – die Suche nach einer leicht anwendbaren Methode, die als Fahrzeug eine größere Anzahl von Menschen zur Buddhaschaft befördern könne (daher großes Fahrzeug).
Die überbordende Anzahl der verschiedenen Sutras und Theorien stiftete allerhand Verwirrung, besonders im China der ersten beiden Jahrhunderte unserer Zeitrechnung. Damals waren die chinesischen Gelehrten mit einer willkürlichen Abfolge unterschiedlicher Sutras konfrontiert, die den Weg in ihr Land fanden – Schriften von den Schulen des Hinayana wie auch denen des Mahayana. Verwirrt ob der Vielfalt dieser Lehren, starteten die chinesischen Buddhisten den Versuch, die verschiedenen Sutras zu bewerten und zu klassifizieren.
Bis zum fünften Jahrhundert war die Systematisierung des buddhistischen Kanons weit fortgeschritten. Insbesondere ein buddhistischer Mönch namens Zhiyi, später bekannt als der Große Lehrer Tiantai, entwickelte den klassifizierenden Standard der »fünf Perioden und acht Lehren«.
Auf der Grundlage seiner eigenen Erleuchtung, die der von Shakyamuni durchaus gleichgekommen sein mochte, lieferte Tiantais System eine Einteilung der Sutras – sowohl in ihrer Chronologie als auch in ihrer inhaltlichen Tiefe.
Er bestimmte, dass das Lotos-Sutra die letztendliche Wahrheit enthalte, jene vorletzte Lehre von Shakyamuni, die er gegen Ende seines Lebens dargelegt hatte. Tiantai bezeichnete diese Wahrheit als das Prinzip der »dreitausend Bereiche in einem einzigen Lebensmoment«. Mit seinem phänomenologischen Ansatz beschreibt es all die kaleidoskopartigen Emotionen und mentalen Zustände, die Menschen in einem bestimmten Moment durchleben können.
Die Theorie der dreitausend Bereiche in einem einzigen Lebensmoment besagt, dass all die unzähligen Phänomene des Universums in einem einzigen Lebensmoment eines gewöhnlichen Sterblichen enthalten sind. Folglich ist der gesamte Makrokosmos im Mikrokosmos enthalten.
Die unendlich weite Dimension des Lebens, zu der Shakyamuni unter dem Bodhi-Baum erwachte, war für das normale menschliche Bewusstsein jenseits des Erfassbaren.
Tiantai beschrieb diese letztendliche Wahrheit als dreitausend Bereiche in einem einzigen Lebensmoment und erkannte, dass das Lotos-Sutra als einziges Sutra klarstellte: Alle Menschen – Männer wie Frauen, Gute wie Schlechte, Junge wie Alte – tragen in sich das Potenzial, die Buddhaschaft in ihrem jetzigen Leben zu verwirklichen.
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