Das Leben des Buddha
Im Unterschied zu den westlichen Religionen wie Judentum, Christentum und Islam beansprucht der Buddhismus keine göttliche Offenbarung für sich. Vielmehr ist er die Lehre eines einzigen Menschen, der durch eigene Anstrengung zum Lebensgesetz erwacht ist, das in ihm selbst vorhanden war. Er war ein Mensch, der nichts niederschrieb und von dem wir sehr wenig wissen. Doch das, was wir wissen, wurde zum Katalysator für die Veränderung von vielen Millionen Menschenleben.
Der historische Buddha trug den Vornamen Siddhartha – »Der, der sein Ziel erreicht hat« – und sein Familienname lautete Gautama – »Beste Kuh«. Er wurde in Nordindien vor etwa 2500 bis 3000 Jahren geboren. Über den tatsächlichen Zeitpunkt gehen die Meinungen auseinander, doch die aktuelle Forschung tendiert dazu, Buddhas Geburt in das 5. oder 6. Jahrhundert v. Chr. zu legen. Obwohl nicht genau bestimmbar, bleibt der Zeitpunkt dennoch bedeutsam. Wie der deutsche Philosoph Karl Jaspers bemerkte, wurde Siddhartha ungefähr zur gleichen Zeit geboren wie Sokrates in Griechenland, Konfuzius in China und Jesaja in der jüdischen Welt. Das gleichzeitige Erscheinen dieser großen Männer markierte, so Jaspers, das Anbrechen einer spirituellen Zivilisation.
Siddharthas Vater war der Herrscher des Shakya-Klans, eines kleinen Stammes, der an der Grenze zu Nepal lebte. Daher wurde der Buddha bekannt als Shakyamuni – der »Weise der Shakyas«. Da es kaum schriftliche Aufzeichnungen gibt, bleiben die Details über sein frühes Leben lückenhaft. Wir wissen, dass Siddhartha als Prinz geboren wurde und im Reichtum lebte. Wir wissen auch, dass er mit einer scharfsinnigen Intelligenz und einem zur Innenschau fähigen Wesen ausgestattet war. Als junger Mann heiratete er Yashodhara, die ihm einen Sohn namens Rahula gebar.
Schließlich gab er sein wohlhabendes, privilegiertes Leben auf, um den Pfad der Weisheit und Selbsterkenntnis zu beschreiten. Was ihn dazu trieb, sein luxuriöses Heim und die Sicherheit der Familie zu verlassen, ist in der Legende von den vier Begegnungen beschrieben.
So soll der junge Prinz seinen Palast in Kapilavastu viermal verlassen haben. Als er ihn durch das Osttor verließ, sah er einen vom Alter gebeugten und geschrumpften Mann.
Als er den Palast durch das Südtor verließ, sah er einen kranken Menschen. Auf seinem dritten Ausflug, diesmal durch das Westtor, sah er einen Toten. Und zuletzt, auf dem Weg hinaus durch das Nordtor, traf er auf einen Asketen. Der Alte, der Kranke und der Tote stehen für die Probleme des Alterns, Krankseins und des Sterbens. Zusammen mit dem Problem der Geburt, wozu auch das Am-Leben-Sein gehört, werden diese vier Umstände auch »die vier Leiden« genannt – die Grundprobleme der menschlichen Existenz.
Shakyamunis Motiv, seinen Prinzenstatus für ein Asketenleben aufzugeben, war nichts Geringeres als herausfinden zu wollen, wie sich diese vier Leiden überwinden ließen.
In der Art der Arhats, der heiligen Männer, des alten Indien, die auf der Suche nach der letztendlichen Wahrheit das Land durchwanderten, begann Siddhartha seine Reise. Wir wissen, dass dieser Weg steinig war, voller körperlicher und mentaler Herausforderungen. Er ging zuerst nach Süden und gelangte nach Rajagriha, der Hauptstadt des Königreichs Magadha, wo er unter Anweisung des Lehrers Alara Kalama praktizierte. Dieser, so wurde berichtet, war durch Meditation vorgedrungen zu einem »Ort, wo nichts existiert«. Siddhartha erreichte schnell dieselbe Stufe, aber seine inneren Fragen blieben unbeantwortet. Er wandte sich an einen anderen Weisen, Uddaka Ramaputta, der vorgedrungen war zu einem »Ort, wo es weder Denken gibt noch Nicht-Denken«. Diese Meditation meisterte Siddhartha ebenfalls, doch die Antworten auf seine tiefsten Fragen hatte er noch immer nicht gefunden.
Daisaku Ikeda, einer der herausragenden modernen Interpreten des Buddhismus, schrieb dazu in seinem Buch Der Buddha lebt:
»Für Yoga-Meister wie Alara Kalama und Uddaka Ramaputta hatte die Yoga-Praxis offensichtlich aufgehört, ein Weg zu einem höheren Ziel – jenem der Erleuchtung – zu sein, und war zu einem Ziel für sich geworden. (…) Yoga- und Zen-Meditation sind hervorragende, von asiatischen Philosophien und Religionen entwickelte Praktiken – aber, das hat Shakyamuni klargemacht, sie sollten als Methoden zum Verständnis und zum Erreichen der letzten Wahrheit und nicht als Selbstzweck angesehen werden.«2
Siddhartha unterzog sich dann einer Reihe von asketischen Ausübungen, unter anderem dem zeitweisen Aussetzen der Atmung, Fasten und der Kontrolle des Geistes.
Nach mehreren Jahren, in denen er seinen Körper bis an die Grenze zum Tod quälte, gab er schließlich die strengen asketischen Praktiken auf, die ihn völlig entkräftet zurückließen, und begab sich in der Nähe von Gaya unter einen Pipalbaum, eine Feigenart, der später Bodhi-Baum heißen sollte. Dort meditierte er. Schließlich erlangte er im Alter von etwa dreißig Jahren die Erleuchtung und wurde ein Buddha.
Die Erleuchtung des Buddha
Es ist unmöglich zu wissen, was der Buddha unter diesem Baum erkannt hatte. Seinen vielen Lehrreden zufolge, die wie Homers Odyssee zuerst mündlich von seinen Anhängern weitergegeben wurden, wissen wir Folgendes: Unter dem Pipalbaum sitzend versuchte er, über das normale Bewusstsein hinaus einen Ort zu erreichen, an dem er sich als eins mit dem Leben des Universums wahrnahm.
So ist aufgezeichnet, dass er in den frühen Stadien seiner Meditation immer noch an die Unterscheidung zwischen Subjekt (er selbst) und Objekt (Außenwelt) gebunden war. Er war sich sozusagen seines eigenen Bewusstseins bewusst, wie es von einer Mauer umgeben war – die Grenze war die seines Körpers und die Umgebung außerhalb von ihm selbst.
Schließlich aber geschah es – so Daisaku Ikeda in Der Buddha lebt:
Der Doktrin der Seelenwanderung zufolge, die schon seit den frühesten Zeiten des Brahmanismus gelehrt wurde, ist das menschliche Dasein in keiner Weise auf die Gegenwart beschränkt. Unter dem Bodhi- Baum meditierend gewann Shakyamuni alle seine vormaligen Existenzen Stück für Stück wieder und erkannte, dass seine gegenwärtige Existenz das Glied einer ungebrochenen Kette von Geburt, Tod und Wiedergeburt war, die vor unzählbaren Äonen in der Vergangenheit begann.
Das erkannte er nicht in einer Art von Eingebung, und auch nicht in Form eines Konzeptes oder einer Idee.
Es war klare und wahrhaftige Wiedergewinnung – nicht unähnlich, wenn auch auf völlig anderer Ebene, den Ereignissen, die tief im Innersten unseres Bewusstseins vergraben sind und an die wir uns plötzlich erinnern, wenn wir extrem angespannt oder konzentriert sind.3
»Unbeständigkeit«, so verstand er, sei die wahre Sichtweise auf die Wirklichkeit. Was aber bedeutet das?
Alles Vorhandene, alle Phänomene durchlaufen einen ständigen Wandel. Das Leben, die Natur und die Gesellschaft hören niemals auf, sich zu verändern, keinen Augenblick lang. Es mag so scheinen, dass der Schreibtisch, an dem Du sitzt, oder das Buch, das Du in den Händen hältst, oder das Gebäude, in dem Du lebst, recht solide konstruiert sind. Aber eines Tages werden sie zerfallen. Der Buddhismus erklärt einleuchtend: Leiden entsteht in unserem Herzen, weil wir das Prinzip der Unbeständigkeit vergessen und glauben, dass alles, was wir unser Eigen nennen, für immer Bestand hat.
Angenommen, Du hast eine gut aussehende Freundin oder einen gut aussehenden Freund. Denkst Du dabei lange darüber nach, wie sie bzw. er wohl in dreißig, vierzig Jahren aussehen wird? Natürlich nicht. Es liegt in der Natur des Menschen zu glauben, Gesundheit und Jugend würden ewig andauern.
Genauso wenig gibt es reiche Leute, die sich vorstellen können, eines Tages ohne Geld dazustehen. Es ist nicht falsch, so zu denken. Doch wir leiden, weil wir solchen Vorstellungen anhängen. Du magst Deinen Schatz für immer jung und schön haben wollen und alles daran setzen, dass die Liebe ewig währt. Doch wenn es an der Zeit ist, vom geliebten Menschen Abschied zu nehmen, wirst Du tiefsten Schmerz empfinden.
Weil Menschen Reichtum anhäufen wollen, gehen einige sogar so weit,