Die Krankheit meines Vaters machte mir klar, wie wichtig es ist, von dem vollen Spektrum unserer geistigen Fähigkeiten Gebrauch zu machen, solange wir sie noch besitzen, und sie auf keinen Fall für selbstverständlich zu halten. Ich habe gelernt, wie wichtig es ist, diese Fähigkeiten zu entwickeln, um die Wirklichkeit der Dinge erkennen zu können und sich nicht dazu verführen zu lassen, die bloße Erscheinung irrtümlich für die Realität zu halten. Das war meinem Vater in seiner Laufbahn als Wissenschaftler nie passiert, aber wie wir alle war er in anderen Bereichen des Lebens nicht dagegen immun, auch wenn er Immunologe war.
Schließlich müssen wir alle wissen, wo wir in Zeit und Raum lokalisiert sind (und sei es nur, dass wir wissen, dass wir uns verirrt haben), und wenn wir nicht gerade an Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz leiden, dann wissen wir das auch. Und wir alle müssen wissen und mit der relativen Erfahrung des Wissens in Kontakt sein, wann wir etwas erfahren (jetzt) und wo wir uns befinden (hier), und wir müssen unsere Position innerhalb eines Stroms von »vorher und nachher« bestimmen können und wissen, wo wir wann waren.
Unser Nervensystem übernimmt auf eine Weise, die wir noch nicht verstehen, diese orientierenden Funktionen für uns und macht seine Arbeit zeitlebens bemerkenswert gut. Aber wir sollten nicht vergessen, dass dies eine Eigenschaft des Geistes ist, die ebenfalls vergänglich ist, der wir uns nicht sicher sein und die wir nicht für selbstverständlich halten dürfen. Wenn wir Achtsamkeit kultivieren, dann machen wir den besten Gebrauch von dieser Fähigkeit, solange uns das noch möglich ist.
Der Verlust dieser grundlegenden Funktion der Orientierung wird mit erschreckender Eindringlichkeit in der Anfangsszene des Romans Die Diagnose von Alan Lightman beschrieben, in der ein Geschäftsmann auf dem Weg zur Arbeit irgendwo zwischen einem Vorortbahnhof und seinem Bestimmungsort im Zentrum von Boston einfach und auf unerklärliche Weise vergisst, wer er ist und wohin er gerade fährt. Der surreale Albtraum, sein Ziel und seine Orientierung zu verlieren (»Wohin fahre ich denn heute morgen in meinem Geschäftsanzug? Ach ja. Natürlich ins Büro, wie all die Leute in diesem Zug. Aber wo arbeite ich denn und was habe ich eigentlich für einen Beruf?«), führt plötzlich dazu, dass er sich in einem traumartigen Zustand verliert, in dem ihm alles vage bekannt vorkommt, es dann aber doch nicht ist. Ein Traum, der sehr schnell zu einem echten Albtraum wird.
Wir alle leben ständig am Rande eines solchen Albtraums. Aber irgendwie ist unser Orientierungssystem so robust, dass uns der pathologische Zustand und der Albtraum erspart bleiben – zumindest auf der konventionellen Ebene. Aber »Wer bin ich?« und »Wohin gehe ich?« sind tiefgründige Fragen, im Grunde echte Zen-Kōans.4 Ich denke, dass es uns sehr gut tun würde, wenn wir uns diese Fragen als eine Meditationsübung regelmäßig selber stellten, statt das, was wir sind und was wir tun, für selbstverständlich zu halten; besonders, wenn wir glauben, die Antwort zu kennen und den Schleier der oberflächlichen Erscheinung und Geschichten, die wir uns selbst erzählen, und der vielleicht die Tiefenstruktur und die vielfältigen Dimensionen unseres wahren Lebens überdeckt, beiseite zu ziehen. Denn keine von uns kann sich jemals sicher sein, dass ihr diese Fähigkeiten auch weiterhin zur Verfügung stehen werden, oder wie lange sie noch leben wird, um zu lernen und in die Fülle ihrer selbst hineinzuwachsen.
Was bei meinem Vater erhalten blieb, als sein Gedächtnis und sein Verstand schon fast gänzlich dahin waren, war die Liebe seiner Familie und die tiefen Bande zu vielen wunderbaren FreundInnen, KollegInnen und StudentInnen in aller Welt, und das, was er in der Welt getan, gegeben und geliebt hatte. Das sind die menschlichsten unserer Verbindungsfäden zu dieser Welt. Aber auch sie sind flüchtig und vergänglich, sodass wir sie am besten anerkennen, sie kultivieren und uns ihrer erfreuen sollten, solange wir noch Gelegenheit dazu haben.
Was eine jede von uns irgendwann einmal vielleicht am tiefsten bedauern könnte, ist, den Moment nicht beim Schopfe gepackt und als das gewürdigt zu haben, was er war, solange er greifbar war, insbesondere, was unsere Beziehungen zu anderen Menschen und zur Natur angeht. Vielleicht ist das die wesentlichste Orientierung, sowohl innerhalb von Zeit und Raum als auch gleichzeitig außerhalb von Zeit und Raum: ein nahtloses, kontinuierliches Erkennen dessen, was ist, direkt, nichtbegrifflich und in der eigenen Erfahrung verankert. Und all dem mit Liebe zu begegnen.
4 Ein Kōan ist ein Hilfsmittel der Zen-Schulung, eine Herausforderung in Form einer Frage oder eines Dialogs, die man versucht, während der Meditation vor dem inneren Auge zu halten, die man begreifen und auf die man antworten soll, ohne mit dem diskursiv denkenden Geist zu antworten, da jegliche Antwort, die aus dem Denken kommt, nicht authentisch und nicht den gegebenen Umständen angemessen sein wird. Beispiele für ein Kōan sind die Fragen »Was bin ich?« oder »Hat ein Hund die Buddha-Natur?« oder »Was ist Buddha?«. Praktisch sämtliche Situationen unseres Lebens könnte man als einen Kōan ansehen; es könnte etwa »Was ist dies?« oder sogar »Was jetzt?« lauten. Die Antwort könnte in jedem Augenblick eine andere sein. Es geht einzig darum, dass sie authentisch und angemessen ist und nicht aus dem dualistischen Denken hervorgeht. Es kann auch eine nichtverbale Antwort sein.
Orthogonale Wirklichkeit – Quantensprünge des Bewusstseins
Im Allgemeinen sind wir Menschen bewunderungswürdige Erforscher und Bewohner der konventionellen Realität, der Welt »da draußen«, wie sie von unseren fünf klassischen Sinnen definiert und moduliert wird. Wir haben uns im Laufe der noch kurzen menschlichen Geschichte in dieser Welt eingerichtet und haben gelernt, sie nach unseren Bedürfnissen und Wünschen zu gestalten. Dank der Anstrengungen der Naturwissenschaften verstehen wir Ursache und Wirkung in der physischen Welt, zumindest in der Welt der Newtonschen Physik, immer mehr, und dieses Verständnis vertieft sich ständig noch weiter, während neue Entdeckungen gemacht werden.
Doch selbst in den Naturwissenschaften ist es, wenn wir die Grenzbereiche betrachten, nicht so klar, ob wir die zugrundeliegende Wirklichkeit tatsächlich verstehen, die zwar statistisch ergründet, aber doch auf beunruhigende Weise unvorhersagbar und geheimnisvoll zu sein scheint, etwa bei der Frage nach Ursache und Zeitpunkt eines bestimmten Vorgangs von radioaktivem Zerfall im Kern eines radioaktiven Atoms, oder ob das Universum endlich ist oder nicht, ob Zeit tatsächlich existiert, was im Inneren eines Schwarzen Lochs geschieht, warum das Vakuum so viel Energie besitzt, oder ob Raum nichts oder etwas ist.
Nichtsdestoweniger haben wir in der alltäglichen Realität der gelebten Erfahrung, wie schon früher angemerkt, einen Körper; wir werden geboren, leben unser Leben und sterben. Zum größten Teil bleiben wir dabei, den Schein der Dinge zu akzeptieren und mehr oder weniger bequeme Erklärungen dafür zu finden, wie die Dinge sind und warum sie so sind. Und unsere Sinne können uns einlullen, wenn wir uns von unseren Gewohnheiten bestimmen lassen und nicht wirklich von Moment zu Moment mit den Dingen in Kontakt sind, – wenn wir dermaßen von unserem Denken und Handeln absorbiert sind, dass wir uns vom Bereich des Seins, von der Empfindungsfähigkeit entfernen, auch wenn sie uns in jedem Moment näher als nah ist.
Während ein junger Mensch auf der Straße an uns vorbeigeht, sage ich zu Myla: »Hat er nicht ein schönes Gesicht?« Worauf sie antwortet: »Ja, wenn du das Fehlen jeglichen Gefühls darin übersiehst.«
Es hängt alles davon ab, was wir bereit sind zu sehen oder was wir aus einem Reflex heraus ignorieren, wie bereitwillig wir unsere momentane Wahrnehmung an das Seil eines aus Gewohnheit unachtsamen Wahrnehmens andocken lassen, bei dem wir nicht wirklich hinsehen, aber doch so tun, als täten wir es.