Eines Tages erzählte mir eine seiner Kolleginnen von der Columbia University die folgende Geschichte: Gegen Ende ihres gemeinsamen Mittagessens in der Ärztekantine sagte mein Vater zu ihr, er werde sich gleich zum Flughafen aufmachen, um nach New York zurückzukehren. Die Sache war nur, dass er sich bereits in New York befand. Als ich diesen Anruf erhielt, wussten ich und meine Familie bereits Bescheid.
Die erste Episode, der ich es erlaubte, in mein Bewusstsein zu dringen oder die ich einfach nicht mehr übersehen konnte, ereignete sich in jenem Jahr, als er, wie immer ohne Steuerberater, seine Steuererklärung machte. Er berichtete mir voller Begeisterung, er werde das Finanzamt dazu bewegen, ihm die Kosten für all seine Reisen zwischen New York und den NIH zu erstatten. Doch dabei verwechselte er, was früher unvorstellbar gewesen wäre, einen Steuerabzug mit einer Rückzahlung. Ich war am Boden zerstört. Ich erinnere mich bis zum heutigen Tag an dieses eindrückliche Gefühl, das irgendwo tief in meiner Brust begann und sich dann als Übelkeit in der Magengegend festsetzte, als mir klar wurde, was das zu bedeuten hatte. Dies war ein Symptom von einer ganz anderen Größenordnung als die gelegentliche Schwierigkeit, das richtige Wort zu finden oder zu vergessen, wo er seine Schlüssel abgelegt hatte.
Konnte das wirklich wahr sein? Was sollte dies für meinen Vater bedeuten, dessen eigener Mentor, der große Immunologe Michael Heidelberger, 103 Jahre alt geworden war und der bis zum Alter von 102 Jahren noch täglich in seinem Labor aufgetaucht war, um mit den Studenten zu diskutieren und seine Forschungsberichte zu schreiben. Meines Vaters einziger Wunsch war es – und dieser Wunsch wurde immer stärker, während er selber spürte, dass er älter wurde –, kreativ zu bleiben und in seinem geliebten Labor das leisten zu können, was er »produktive Arbeit« nannte. Sein ganzes Leben lang hatte er, der mit einem eisernen Willen und einem rasiermesserscharfen Intellekt begabt war, fast ausschließlich in und von seinem Verstand gelebt. Er hatte einen Lehrstuhl in Mikrobiologie inne und war in drei anderen Fakultäten als Professor tätig, und er hatte für seine Pionierarbeit auf dem Gebiet der Immunochemie und der Molekularen Immunologie aus der Hand des Präsidenten die National Medal of Science erhalten. Er war altgedientes Mitglied der National Academy of Sciences, ein Mann, der schon überall als Dozent und Berater gearbeitet hatte und der sich praktisch als Einziger auf weiter Flur und unter großen Kosten für seine berufliche Karriere gegen den Loyalitätseid verwahrt hatte, den das öffentliche Gesundheitssystem während der McCarthy-Ära allen Wissenschaftlern abverlangte, die Forschungsgelder beantragten. Er boykottierte die National Institutes of Health öffentlich und gewährte vom Public Health Service finanzierten Wissenschaftlern so lange keinen Zugang zu seinem Labor, bis, so lautete zumindest seine Version der Geschichte, die Regierung nachgab und einige Jahre später die Forderung zurücknahm. Ich erinnere mich, wie er damals, ich war noch ein Schuljunge, nach Hause kam und eine Flasche Champagner für die Familie öffnete, um seinen Sieg zu feiern. Prinzipientreue und Ehrlichkeit waren ihm heilig; seine ethische Leitlinie als Naturwissenschaftler war, die Daten für sich sprechen zu lassen. Soweit ich weiß, ist er während seiner gesamten wissenschaftlichen Arbeit niemals von diesem Prinzip abgewichen.
Er hatte in seinem Labor in Zusammenarbeit mit Kolleginnen aus aller Welt fast fünfhundert Forschungsberichte veröffentlicht. Er war der Koautor von drei Ausgaben eines gewichtigen Lehrbuchs mit dem Titel Experimental Immunochemistry, zu seiner Zeit die Bibel auf diesem Gebiet, und er hatte eine Reihe anderer Fachbücher veröffentlicht, von deren Inhalt ich trotz meiner Ausbildung in Molekularbiologie kaum ein Wort verstand. Und nun verwechselte dieser Mann einen Steuerabzug mit einer Rückzahlung, fragte mich, in wessen Haus er sich befand, wenn er mich besuchen kam, erklärte mir mit einiger Befriedigung, er habe eine besondere Abmachung mit der Telefongesellschaft, dass er seine Telefonrechnung mit Einzahlungsbelegen statt mit einem Scheck begleichen dürfe, und war dabei so überzeugend und liebenswürdig, dass ich ihm für einen Moment beinahe glaubte. Nun erzählte er gelegentlich, wie er einst eine Zeit lang unter den Pygmäen in Afrika gelebt habe, und dass sie, die bereits alle seine Forschungsberichte gelesen hatten, »sehr froh« gewesen seien, ihn zu treffen, als er in ihrem Dorf ankam. Der Vorstellung, wie diese kleinen Menschen zu ihm aufsahen und ihm ihre Ehrerbietung erwiesen, konnte ich mich nicht erwehren. Als ich ihn fragte, wo in Afrika das gewesen sei, antwortete er »Südamerika«. Und in diesem Stil ging es weiter. Er lief ziellos in der Nachbarschaft umher. Er wurde inkontinent. Er begriff seine eigene Arbeit nicht mehr. Und er wusste immer weniger zu sagen, wer seine Freunde waren.
Die Zeit, die ich mit ihm verbringen konnte, war mir kostbar, ganz gleich, was geschah, während sich der Vorhang auf sein Gedächtnis herabsenkte und er immer weniger wusste, wo er war und was mit ihm geschah. Wir saßen nebeneinander und hielten uns bei der Hand, manchmal stundenlang. Er konnte sehr lange dasitzen. Es war, als meditierten wir zusammen. Er war auf seine Weise präsent und ich auf meine. Das Wichtigste war, dass wir zusammen waren. Unsere gemeinsame Zeit war kostbar, schmerzlich und zum Verzweifeln.
Er hatte so seine Momente. Eines Tages, als er im Garten vor einem hohen Lattenzaun saß, hinter dem ein Telefonmast vor den Büschen und dem Himmel emporragte, in den ein einziges Kabel hinein, aber keines hinausführte (es muss wohl auf der Rückseite des Mastes in die Erde geleitet worden sein), erklärte er plötzlich wie aus dem Nichts: »Na, das ist wohl wirklich die Endstation.«
Da war viel Wahres dran. Ich konnte nicht umhin, mir vorzustellen, wie ein Foto von uns beiden aussähe, von hinten aufgenommen, wie wir da auf der Bank saßen, den Telefonmasten mit seinem einsamen Kabel vor uns, dahinter der Himmel. Es hätte den Titel »Endstation« tragen können. Für ihn war es das.
Bei einer anderen Gelegenheit kommentierte er das Kommen und Gehen der Krankenwagen, das er vom Fenster seines Zimmers in dem Pflegeheim, in dem er schließlich untergebracht werden musste, aus beobachtete, mit dem Satz: »Wenn du stirbst, dann schmeißen sie dich raus.«
Ich spürte, wie seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten immer mehr nachließen, und eine Zeit lang spürte er es ebenfalls und lehnte sich dagegen auf, bis auch diese Auflehnung sich auflöste. Aber es kam nie soweit, dass er nicht mehr wusste, wer seine Frau, wer seine Kinder und Enkelkinder waren. Er konnte uns allein an der Stimme am Telefon erkennen. Wenn ich ihn anrief und nur »Hi, Dad« sagte, wusste er sofort, dass ich am Apparat war und nicht einer meiner beiden Brüder. Seine liebevolle Begrüßung »Hi, Johnny, Schatz« traf mich mit schmerzlicher Wucht und löste Dankbarkeit und Traurigkeit zugleich aus.
An dem Tag, an dem er starb, hatte ich ihn einige Stunden lang in meinen Armen gehalten und ihm seine Lieblingslieder von Gilbert und Sullivan vorgesungen, Lieder, die er für mich gesungen hatte, als ich noch ein Kleinkind gewesen war. Hier und da veränderte ich den Text und erfand neue Verse, um ihm die Botschaft zu vermitteln, wie sehr er in der Liebe seiner Familie lebte, und dass es ganz in Ordnung war, wenn er nun Abschied nahm. Zwischen diese Lieder streute ich immer wieder Rezitationen von Mantren und Texten ein, die ich im Lauf der Jahre in den verschiedenen Traditionen, in denen ich Meditation praktiziert hatte, gelernt hatte, einschließlich des »Herz-Sūtra« auf Englisch und Koreanisch, um dann immer wieder in lange Phasen des Schweigens zu verfallen. Es fühlte sich irgendwie richtig an, »Form ist nichts anderes als Leere, Leere ist nichts anderes als Form« anzustimmen, während mir Tränen über die Wangen liefen. In all dem und besonders in den langen Phasen der Stille war ich mir seiner zaghaften, unregelmäßigen Atmung bewusst, aber auch meiner eigenen. Und dann kam nach vielen Stunden ein Moment, in dem seine Ausatmung stockte – und keine Einatmung folgte. Schluchzend hielt ich ihn noch lange in den Armen.
Während der acht langen Jahre, in denen mein Vater seinen Verstand verlor, wurde mir sehr viel über die Dinge klar, die ich für selbstverständlich gehalten hatte. Er verlor zunehmend den Kontakt zu dem, was nur wenige Momente zuvor geschehen war. Er war zwar präsent, aber es war eine verwirrte Präsenz. Er war sich des Zusammenhangs der Dinge nicht mehr bewusst. Er besaß keine Orientierung in einem umfassenden Bewusstsein, das ein Gefühl für Vergangenheit und Zukunft beinhaltete. Er brachte es oft nicht fertig, Gedanken, die er zweifellos hatte, festzuhalten und in Worte zu fassen. So sprach er zum Beispiel über bestimmte Dinge, musste dann aber, weil ihm das Wort nicht einfiel, auf Begriffe wie »Substanz« oder »Material« zurückgreifen,