Heilwerden ist ein Prozess, zu dem gehört, dass wir unsere Ganzheit anerkennen und uns standhaft dagegen wehren, uns fragmentieren zu lassen, selbst wenn wir vor etwas Angst haben oder vom Leben zerbrochen werden. Heilwerden heißt letztlich, dass wir mit den Dingen, so wie sie sind, Frieden schließen, statt ständig darum zu ringen, sie zu zwingen, so zu sein, wie sie einmal waren oder wie wir sie gern haben würden, damit wir uns sicher fühlen können, oder einfach, um unseren Willen zu bekommen. Wie mein Freund und Kollege Saki Santorelli gesagt hat, geht es bei Heilung darum, zu wissen, dass wir zerbrochen und doch ganz sein können.
Emily Dickinson formulierte diesen endemischen Impuls, Teile von uns selbst abzuspalten, uns angesichts unserer eigenen Ängste und Wunden zu fragmentieren, mit unglaublicher Prägnanz:
Mich zu verbannen aus mir selbst
– besäße ich die Kunstfertigkeit –
meine Festung wäre uneinnehmbar
für jedes Herz.
Doch da ich selbst es bin, der mich belagert –
wie könnt ich Frieden finden,
wenn nicht, indem ich das Bewusstsein
unterwürfe?
Und da wir beide für einander Herrscher sind,
wie könnt dies sein,
wenn nicht durch Abdankung –
des Ich – von mir?
Wie oft verbannen wir uns freiwillig, doch ohne uns dessen bewusst zu sein, aus uns selbst, wie oft geben wir unsere Ganzheit auf, wie oft unterwerfen wir unser Bewusstsein, unsere Empfindungsfähigkeit und unseren gesunden Menschenverstand, unsere Souveränität und die Möglichkeiten wahrer Heilung in der Hoffnung, Unverletzlichkeit zu finden, uns selbst vor weiteren Schmerzen zu bewahren und unser Leiden zu lindern?
Was ist der Preis, den wir für eine solche Abdankung zahlen? Und ist er die Sache wert?
Was wäre, wenn wir uns entschlössen, mutig zu sein und unser Bewusstsein nicht mehr zu unterwerfen? Oder es wenigstens für einen Moment nicht mehr zu tun?
Wer wären wir dann?
Wie würden wir uns im Inneren fühlen?
Wie würden wir uns nach Außen verhalten?
Keine Trennung
Albert Einstein, der über eine tiefere Einsicht in die Natur von Zeit und Raum, von Masse und Energie, von Licht und Schwerkraft verfügte als seine Zeitgenossinnen, erkannte, welch blind machende Wirkungen Begehren und Anhaften haben und wie wichtig es ist, das aufzulösen, was er die »Täuschung der Getrenntheit« nannte. Als sich einmal ein Rabbi an ihn wandte und ihn um Rat fragte, wie er den Tod seiner Tochter, eines »wunderschönen sechzehnjährigen Mädchens ohne Sünde« deren älterer Schwester erklären solle, entgegnete Einstein:
»Ein Mensch ist Teil des Ganzen, das wir ›Universum‹ nennen, ein in Zeit und Raum begrenzter Teil. Es erfährt sich selbst, seine Gedanken und Gefühle als etwas vom Rest Getrenntes – eine Art optischer Täuschung seines Bewusstseins. Diese Täuschung ist wie ein Gefängnis für uns, da sie uns auf unsere persönlichen Wünsche und auf die Zuneigung für einige wenige Menschen, die uns am nächsten stehen, beschränkt. Unsere Aufgabe besteht darin, uns aus diesem Gefängnis zu befreien und den Kreis unseres Mitgefühls derart auszuweiten, dass er alle lebenden Kreaturen und die gesamte Natur in ihrer Schönheit umfängt. Niemand ist fähig, das vollkommen zu erreichen, aber das Streben nach einer solchen Errungenschaft ist an sich bereits ein Teil der Befreiung und ein Fundament für innere Sicherheit.«
Dass Einstein als großer Physiker von Befreiung und innerer Sicherheit spricht, ist schon an und für sich sehr bezeichnend. Es wird deutlich, wie sehr er das Gefühl hatte, dass wir alle von der Täuschung der Getrenntheit geplagt werden, der Trennung meiner selbst von mir selbst, meiner selbst von dir, des Ich vom Du, und wie viel er von dem Leiden verstand, das daraus resultiert, sowie von der Notwendigkeit, sich durch das Kultivieren von Mitgefühl dagegen zu schützen.
Er betrachtete die Welt aus einer ganzheitlichen Perspektive, mit den Augen der Ganzheit. Und aus der Perspektive der Befreiung von Täuschung. Und seine Antwort war… Mitgefühl.
Können wir von uns selbst verlangen, mit den Augen der Ganzheit zu sehen und uns bewusst zu sein, was für ein Gefängnis wir aufgrund unserer Täuschung der Getrenntheit für uns selbst und für andere errichten, wo es doch im Grunde gar keine Trennung gibt? Können wir, wie Einstein es formulierte, den Kreis unseres Mitgefühls so weit ausdehnen, dass er »alle lebenden Kreaturen und die gesamte Natur in ihrer Schönheit« umfängt? Und können wir uns selbst in diesen Kreis des Mitgefühls miteinbeziehen?
Warum nicht?
Es ist schließlich eine Sache der Übung, keine philosophische Frage. Und diese Übung nennt man aufwachen aus der Täuschung, aus der Fragmentierung, aus der Abdankung, aus den Machenschaften unserer eigenen Missverständnisse. Das nennt man die Befreiung unserer selbst von dem, was »Getrenntheit« zu sein scheint, wo wir doch in Wirklichkeit auf der allertiefsten Ebene wahrhaft zugehörig sind, wo wir doch schon immer nahtlos in das Ganze eingewoben sind, wo wir doch bereits zu Hause sind, hier, in diesem Augenblick, mit diesem Atemzug, an diesem Ort.
Ach, nicht getrennt sein,
nicht durch so wenig Wandung
ausgeschlossen vom Sternen-Maß.
Innres, was ists?
Wenn nicht gesteigerter Himmel,
durchworfen mit Vögeln und tief
von Winden der Heimkehr.
RAINER MARIA RILKE
Orientierung in Zeit und Raum – Im Gedenken an meinen Vater
Wer bin ich? Wo bin ich? Wie spät ist es? Wo war ich? Was habe ich gerade getan? Wo gehe ich hin? Nein, das ist nicht der Titel eines Gemäldes von Gauguin, auch wenn er das sein könnte. Das sind grundlegende Fragen. Wir schätzen uns glücklich, wenn wir uns daran erinnern können, den Herd abzuschalten, nachdem wir ihn benutzt haben, und uns, was sehr viel schwieriger ist, einige Zeit später noch daran erinnern können, dass wir ihn abgeschaltet haben. Doch wir schätzen uns im Allgemeinen nicht glücklich, wenn wir wissen, was wir gerade tun, wer wir sind, wo wir sind oder wie spät es ist. Das sollten wir aber. Wir halten schrecklich viel für selbstverständlich, was eigentlich überaus wunderbar und belebend ist und jedem sich entfaltenden Moment unseres Lebens Sinn gibt.
Als mein Vater nach und nach große Teile seines Verstands an die Alzheimer-Krankheit verlor, wurde mir auf verstörende Weise klar, was ich bisher alles für selbstverständlich gehalten hatte. Ich wusste, wo ich war, wie ich dort hingekommen war, was ich zuvor getan hatte und was als Nächstes kommen könnte. Und ich brauchte gar nicht darüber nachzudenken. Ich wusste es einfach. All das löste sich für ihn immer mehr auf. Es war, als entstünden große Löcher in seinem Gehirn. Zeit und Raum und Kausalität gehörten zu den frühen Opfern.
Mein Vater, Elvin Kabat, hatte seine gesamte berufliche Laufbahn am Medical Center der Columbia University absolviert, abgesehen von einer Zeitspanne von zwanzig Jahren gegen Ende seines Berufslebens, in denen er, erstaunlich für einen Mann seines Alters, jedes Wochenende zwischen seinem Labor in