B. ging hinaus und tastete sich mit Kübel, Krug und Frottiertuch Richtung Waschraum. Am besten konnte er sich orientieren, wenn er der Wand entlang ging. Bei Richtungswechseln zupfte ihn der Begleiter am Ärmel, bis sie am Ziel waren. Würde er genügend Zeit für seine Notdurft haben? Nach kurzer Zeit schon polterte der Wärter an die WC-Türe. B. erbat sich noch eine Minute, aber dann wurde schon wieder geklopft, und er brach ab. Verärgern wollte er die Wärter nicht, sonst wäre es wohl vorbei gewesen mit den freundlichen «Biiiirun» auf alle Zeiten.
Am Abend wurde B. unprogrammgemäss von ein paar Soldaten aus der Zelle geführt. Die Soldaten hatten Henkersmützen mit kleinen Sehschlitzen an, um nicht erkannt zu werden. B. erschrak – wo wollten sie hin mit ihm? Sie führten ihn in den Waschraum. B. wurde aufgefordert zu duschen. Während er duschte, vergnügten sich die Soldaten auf besondere Art: Einer signalisierte mit einfacher Handbewegung, dass B.s Kopf abgeschnitten würde, und dann begannen sie mit dem Kopf Fussball zu spielen – imaginär, einer jonglierte B.s Kopf ein paarmal gekonnt in der Luft und dann passte er ihn einem Kollegen zu, wie Jungen eben Fussball spielen.
Waren die Soldaten in den Henkersmützen übermütig? B. erschrak, einer hatte eine Rasierklinge in der Hand. Er reichte sie B. und forderte ihn auf, alle Körperhaare wegzurasieren. Wozu das? Hygiene oder Schikane? Hassten sie ihn, weil er Schweizer war? Ein paar Tage vor B.s Verhaftung war in der iranischen Presse gegen die Schweiz Stimmung gemacht worden. Die Schweiz habe einen unbescholtenen iranischen Staatsbürger verhaftet und beabsichtige, ihn nach Frankreich zu deportieren, wo seine Verwicklung in die Ermordung des Oppositionellen Schapur Bachtiar behauptet wurde. Vergeltungsmassnahmen gegen Schweizer waren angedroht worden. Womöglich hatte diese Scharfmacherei bei den Soldaten ihre Wirkung hinterlassen.
War B. ein weiteres Opfer der angedrohten Vergeltungsmassnahmen? Bereits war die Bewegungsfreiheit der schweizerischen Diplomaten in Teheran eingeschränkt und eine Schweizer Delegation des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz des Landes verwiesen worden. B. beeilte sich unter der Dusche, um möglichst rasch wieder in der Zelle zurück zu sein. War er gar Geisel, um die Auslieferung Sarhadis zu verhindern? Dann hätten sie ihn doch einfach aufs Eis legen können und nicht so auszuquetschen brauchen, wie sie das in den Verhören taten. B. war inzwischen klar, dass es in den kommenden Tagen und womöglich Wochen physisch und psychisch ums Überleben ging. Für ihn persönlich war der Ernstfall eingetreten.
Jetzt war soldatische Haltung gefragt, wie sie B. in der Bülacher Rekrutenschule bei der Übermittlungstruppe gelernt hatte. B. begann seinen Überlebenskampf straff zu organisieren. Morgens um drei Uhr wurde er geweckt. Danach erdröhnten die Koransuren. Kehrte Stille ein, so kniete sich B. zu seinen Gebeten nieder: ein Vaterunser für seine Frau, eines für die Tochter, eines für die Mutter, je eines für Bruder und Schwester, deren Partner und Kinder. B. kam so jeden Morgen auf zehn Vaterunser. Die erste Viertelstunde des Tages war vorbei. Er war als Bub Ministrant gewesen, seither aber kaum mehr in der Kirche. B. erbat sich nichts Spezielles in den Gebeten, sondern wollte einfach die Verbindung zu den Angehörigen aufrechterhalten. Dann musste alles richtig kommen.
Um sechs Uhr wurde Brot und Käse durchs Guckloch gereicht, ein- oder zweimal war Konfitüre im Brot. Noch bevor sich B. erlaubte zu frühstücken, absolvierte er sein Turnprogramm. Er plagte sich zunächst mit Liegestützen, ging langsam nach unten, blieb unten, bis es weh tat, und kam erst dann wieder langsam hoch, viermal mindestens. Dann horchte er, ob nicht Gefängnispersonal im Gang unterwegs war, und liess den Körper aus ordentlicher Distanz gegen die Wand kippen, so dass er sich verletzt hätte, wenn er nicht im letzten Moment die Arme zum Abstützen nach vorne gerissen hätte. Das wiederholte er zehnmal, um die Reflexe wachzuhalten. Danach ging B. zehnmal tief in die Hocke, bis die Gelenke knackten, blieb einen Moment unten und kam wieder hoch. Zum Schluss trabte er an Ort, zunächst langsam, dann schneller und immer schneller, bis zur totalen Erschöpfung nach vielleicht fünfzig Malen. Nach diesem Programm hatte B. richtig Hunger und freute sich auf das Frühstück.
Um sieben Uhr legte sich B. kurz hin. Das war seine schönste Stunde, nochmals kurz zu dösen, bis er um neun oder halb zehn Uhr zu den Verhören abgeholt wurde.
«Funkoffizier, arrangieren Sie, dass 007 heute abend an Bord kommt!»
Der Wunsch des deutschen Luxusjachtbesitzers war für B. Befehl. Das Schiff befand sich kurz vor dem Einlaufen in den Hafen von Marbella. Ein Gast auf der Jacht war Golflehrer und hatte dem Schauspieler Sean Connery einst Golfspielen beibringen müssen, damit er als James Bond auf dem Golfplatz neben Gert Fröbe keine schlechte Figur machte. Der Golflehrer hatte den Vorschlag gemacht, Connery zum Aperitif auf die Jacht einzuladen, und B. hatte diesen Auftrag übernehmen müssen. Das war ihm recht, denn B. war fasziniert von James Bond, seit er zu Beginn der sechziger Jahre «Liebesgrüsse aus Moskau» im Kino gesehen hatte. Aus der russischen Gesandtschaft in Istanbul wird eine Dechiffriermaschine vom Typ «Lektor» entwendet – inzwischen war dieses Filmszenario für B. Realität. Geheimdienste interessieren sich mit Vorliebe für Chiffriergeräte, dort sind die Schlüssel zum Abhören von Nachrichten. B. hatte Erfolg, Connery kam zum Aperitif pünktlich um acht Uhr, unterhielt sich angeregt mit Schiffspassagieren und Besatzung und wurde zwei Stunden später höflich hinauskomplementiert, denn für 22.00 Uhr hatte der Schiffseigner Nachtruhe und Lichterlöschen in den Gemeinschaftsräumen verordnet. Die Passagiere hatten sich auf ihre Kabinen zurückzuziehen und zu schlafen.
«Birun!» – B. wurde aus dem Traum aufgeschreckt und zu neuen Verhören gerufen. Was hätte er dafür gegeben, in der marineblauen Schiffsfunkeruniform aufzuwachen!
Auf dem Weg ins Verhörzimmer musste B. zusammen mit dem Gefängniswärter zwei Kontrollschleusen passieren und dabei jedesmal seine Gefängnisnummer nennen: «Zifer, yek, do, do, hascht – yek» (01228-1). Daraufhin wurden ihm Handschellen angelegt, und es ging über den Hof Richtung Verwaltungsgebäude. Dort musste B. zusammen mit anderen Gefangenen in einem Raum warten, bis ihn sein Verhörer abholte. Sprechen war auch hier strengstens verboten, oft mussten die Arme über dem Kopf an die Wand gehalten werden. Das ging jeweils zehn Minuten ganz gut, wurde dann aber zu einer harten Bewährungsprobe, so dass die Ankunft des Verhörers geradezu wie eine Erlösung empfunden wurde.
Trotzdem schien B. in den Augen seiner Befrager seine Lage noch immer nicht richtig begriffen zu haben. In der zweiten Woche der Verhöre wurde ihm vom Assistenten ein Blatt über die Schulter gereicht. B. wurde angewiesen, den handschriftlich geschriebenen Text genauestens zu lesen.
«Im Namen Gottes. Mister Hans, wir wollen, dass Sie realisieren: Sie sind in einem iranischen Gefängnis. Wir können Sie behalten, solange wir wollen. Die 52 US-Geiseln waren 1979/80 während 444 Tagen unsere Gefangenen. Sie waren Diplomaten. Sie, Mister Hans, sind kein Diplomat. Es hat keinen Sinn, weiter zu lügen.»
B. las die Sätze zweimal. Hatte er noch immer etwas verschwiegen? Wieder begann er zu einzelnen Anklagepunkten Stellung zu nehmen, schrieb eine Viertelstunde, ohne sich unterbrechen zu lassen. Die Befrager wurden ungeduldig, schauten ihm über die Schultern und wiesen ihn an, sich kürzer zu fassen, speziell, wenn sie feststellten, dass er dieselben Ereignisse schilderte wie in früheren Protokollen. Inzwischen hatte B. während der Verhöre und in der Zelle mehr als hundert Seiten beschrieben. Auffällig war, dass alle auf die Seite 1 folgenden Protokollbogen oben links mit der Seitenzahl 2 markiert waren. Sollte es damit möglich werden, einzelne Seiten aus den Akten zu entfernen?
Um die Gebetszeit am Mittag wurden die Verhöre jeweils unterbrochen. B. wurde in die Zelle zurückgebracht. Auf einem Tablett bekam er meist Reis, gedämpft mit irgendeiner Beilage, jeden Tag. B. ass vielleicht die Hälfte, je nach Stimmung tadelte ihn das Gefängnispersonal oder erkundigte sich nach seinem Befinden. Häufig brachte er keinen Bissen herunter, nicht weil das Essen eintönig war, sondern weil sein Magen nicht aufnahmebereit war. Die Angst sitzt im Magen – das wusste B. seit den ersten Tagen seiner Haft. Je grösser seine Besorgnis, um so grösser der Klumpen im Magen, der für nichts anderes mehr Platz liess. B. krümmte sich, turnte, tigerte in der Zelle auf und ab. Der Klumpen blieb.
Am Nachmittag gingen die Verhöre in der Regel weiter, ausser am Wochenende, nach dem islamischen