«Nichts, ich habe ihm ein paar Medikamente in einer Zürcher Apotheke gekauft.»
War dieser Nuri schon verhaftet worden und hatte ihn belastet? B. musste sich noch exakter an alle Namen zu erinnern versuchen. Jedes unabsichtliche Verschweigen konnte ihm zum Verhängnis werden!
Die folgende Nacht lag B. wach. Zwanzig unbeschriebene Blätter waren ihm in die Zelle mitgegeben worden, damit er Vergessenes unverzüglich nachtragen konnte, wenn es ihm einfiel. B. benutzte die Sandalen als Schreibunterlage und füllte Seite um Seite. Er berichtete von seiner ersten Reise nach Teheran als Tourist 1972, von der Stadttour in Teheran, dem Besuch im Museum. Acht Jahre später war er erstmals als Verkaufsingenieur für die Firma im Iran, hielt die ersten Vorträge und präsentierte Geräte. Wie in seinen ersten Schulaufsätzen reihte er Episode an Episode und überliess die Gewichtung dem Beurteiler. Er war vom Verhörer angewiesen worden, nur Grossbuchstaben zu verwenden.
«ICH HABE SEHR VIELE LEUTE GETROFFEN. ICH KANN MICH NICHT MEHR AN ALLE NAMEN ERINNERN. DOCH, DIE HAUPTVERANTWORTLICHEN INGENIEURE UND REGIERUNGSBEAMTEN, DEREN NAMEN KENNE ICH. WIR HABEN UNS ÜBER DIE JAHRE SO OFT GESEHEN. VIELE WAREN JA AUCH BEI DER FIRMA ZU BESUCH. AM WOCHENENDE WAREN WIR ZUSAMMEN AUF DEM JUNGFRAUJOCH, AUF DER STERNWARTE IN ZÜRICH ODER IM VERKEHRSHAUS IN LUZERN, WENN ES REGNETE. WIR KANNTEN UNS GUT, ES WURDEN MIR IHRE FAMILIEN VORGESTELLT. DER ADMIRAL HAT MICH IN SEINE WOHNUNG EINGELADEN, WIR WAREN ZUSAMMEN AUF VERSCHIEDENEN KRIEGSSCHIFFEN FÜR UNSERE GERÄTE. ICH SCHLOSS CHIFFRIERGERÄTE AN TELEFONAPPARATE IM GEBÄUDE DES VERTEIDIGUNGSMINISTERIUMS AN. ICH WURDE IN EINEN EINSATZRAUM DER STREITKRÄFTE TIEF UNTER DER ERDE GEFÜHRT, WO ICH DAS GLEICHE TAT. ICH SOWIE WEITERE MITARBEITER DER FIRMA ABSOLVIERTEN MEHRERE HELIKOPTERFLÜGE, UM DAS GUTE FUNKTIONIEREN UNSERER GERÄTE ZU ZEIGEN. AUCH HATTEN WIR INSTALLATIONEN IN ANDEREN FLUGZEUGTYPEN VORZUNEHMEN. DIE IRANISCHEN FERNMELDESPEZIALISTEN WAREN SEHR DARAUF BEDACHT, ALLE MÖGLICHEN ANWENDUNGEN VOR EINEM KAUF VON GERÄTEN GESEHEN UND ERPROBT ZU HABEN. NEIN, ICH HABE NICHT SPIONIERT, WIE VIELE HELIKOPTER DIE IRANISCHE ARMEE HATTE, SONDERN HABE IM LAUF UNSERER GESPRÄCHE GEFRAGT, WIE VIELE GERÄTE FÜR DIE VERSCHIEDENEN FLUGZEUGTYPEN DENN IN FRAGE KÄMEN. DIE VERANTWORTLICHEN OFFIZIERE FÜR FERNMELDE- UND CHIFFRIERFRAGEN WAREN BEGEISTERT VON DEN GUTEN RESULTATEN. SIE SAHEN, DASS ES MIT UNSEREN GERÄTEN NUN MÖGLICH WAR, DASS DIE PILOTEN DER LUFTWAFFE UNTER SICH UND MIT BODENSTATIONEN FUNKVERKEHR ABWICKELN KONNTEN, OHNE DASS SIE VOM FEIND ABGEHÖRT WERDEN KONNTEN. DIE FIRMA HATTE DEN AUFTRAG GEWONNEN GEGEN ALLE KONKURRENTEN VON ANDERN EUROPÄISCHEN LÄNDERN. «SWISS QUALITY», DIES GAB ARBEIT IN DER FABRIK IN STEINHAUSEN-ZUG.»
Diese Geschichte würde endlos! Kein Zweifel, seine Firma musste so rasch wie möglich orientiert werden. Ende März stand schon die nächste Verkaufsreise nach Mexiko bevor. Die detaillierte Reiseplanung war zu machen, das Nötige vorzukehren, dass die Swiss Quality an der Ausstellung «America’s Telecom 92» ihrem Ruf gerecht wurde. Es musste dringend dafür gesorgt werden, dass ein anderer Frontverkäufer diese Aufgabe an die Hand nahm.
B. verfasste auf den leer gebliebenen Seiten ein Schreiben an die Firma. Er musste so rasch wie möglich über die Vorwürfe orientieren, die ihm hier gemacht wurden. Das würde sie genauso unerwartet treffen, wie es ihn getroffen hatte! Auch den Verkaufskollegen und den Mitarbeitern im Innendienst wollte sich B. erklären. Was ihm passiert war, konnte jedem passieren. Er schilderte detailliert, wie er aus völlig unerfindlichen Gründen in Teheran verhaftet worden war. Dass ihm illegale Kontakte zu Militärpersonen, Bestechung, Konsum von Alkohol und Spionage vorgeworfen würden. Dabei seien seine Kontakte durchaus im üblichen Rahmen der Verkaufsverhandlungen der Firma gelaufen. Dass man sich abends in einer Privatwohnung getroffen habe, sei angesichts des Zeitdrucks auf einer solchen Reise nicht aussergewöhnlich. Auch der Vertriebschef sei übrigens schon in dieser Wohnung gewesen. Im Cola müsse ein Schuss selbstgebrauter Wodka drin gewesen sein, aber auch das sei nicht aussergewöhnlich. Iranische Gastgeber böten ihren Gästen stets vom Besten an, was sie haben – da werde sich der Vertriebschef zweifellos daran erinnern. B. habe ausserdem nicht danach gefragt, sondern nur, ob er einen «Drink» haben könne, was im Englischen irgendein Getränk bedeute.
Bestochen habe er niemanden. Die beiden kleinen Geldbeträge, die er iranischen Bekannten gegeben habe, einmal 200000 Rial (umgerechnet vielleicht 200 Franken) für einen Medikamentenkauf kurz vor dem iranischen Neujahr zur Behandlung eines erkrankten Kindes, ein zweites Mal 20 000 Rial (20 Franken) für eine Taxifahrt nach einer unerwartet langen Sitzung, könnten angesichts der Dimension dieser Geschäftsabschlüsse doch nicht ernstlich als Bestechungsversuche gewertet werden. Und die Taggelder, die er iranischen Teilnehmern an Trainingskursen in der Schweiz ausgehändigt habe, seien im Rahmen der Kundenbetreuung üblich und auch ganz normal über das Buchhaltungskonto der Firma abgerechnet worden. Spionage schliesslich sei als Vorwurf völlig aus der Luft gegriffen.
B. zeigte sich zuversichtlich, dass sich die Dinge in den nächsten Tagen klären würden, er definitiv in die Schweiz zurückkehren und die Arbeit wieder aufnehmen könne. Ob die Firma trotzdem seine Frau und Tochter informieren könnte?
Sie mussten sich Sorgen machen, denn in den dreizehn Jahren ihrer Lebensgemeinschaft war er wohl hin und wieder verspätet nach Hause gekommen, aber nie, ohne zu telefonieren. Er hatte seiner Tochter zugesagt, dass er am Samstag, dem Besuchstag der Kantonsschule, auf jeden Fall da sein werde, und sie hatte in der Englischstunde wohl Zeichen gemacht in Richtung der Mutter: Wo bleibt er bloss? Jetzt ist er wieder nicht da, kein einziges Mal im Jahr kommt er, obwohl er doch immer wieder sagt, dass ihn meine Schule interessiere und dass Fremdsprachen wichtig seien! Und wer würde den Rasen mähen am Wochenende, wenn er nicht da war? Wenn es nur nicht die Tochter selber versuchen würde!
In diesen Gedanken und Befürchtungen war B. eingenickt. Noch im Traum sah er den Fuss der Tochter eingeklemmt zwischen den Messern des Rasenmähers. Vom Schrei der Tochter und den Koransuren geweckt, schreckte er hoch. Sein Zellenguckloch war schon geöffnet, eine Hand reichte Brot herein.
Beim folgenden Verhör gab B. die zwanzig beschriebenen Seiten ab. Noch während der Verhörer die Seiten überflog, bat B., unverzüglich in die Schweiz telefonieren zu dürfen. Firma und Familie würden sich grosse Sorgen machen, wenn er nicht auf dem gebuchten Flug sei. Falls ein Telefon in die Schweiz unmöglich sei, müsse jedenfalls das Schreiben an die Firma unverzüglich weitergeleitet werden.
Der Verhörer schwieg und las B.s Zellenaufzeichnungen zu Ende. Dann beschied er, dass ein solches Schreiben unmöglich an die Firma weitergeleitet werden könne. B. bat darum, wenigstens die Schweizer Botschaft in Teheran in einem kurzen Brief anzuweisen, seine Hotelrechnung zu begleichen. Der Betrag würde nach seiner Freilassung umgehend zurückerstattet. So war die Botschaft immerhin auch über seine Verhaftung orientiert, ohne dass sich B. gleich auf sein Recht auf einen Botschaftsbesuch berufen hatte, was ihm die iranischen Behörden nachteilig hätten auslegen können. Auch den Anspruch auf einen Verteidiger wollte B. vorderhand nicht stellen. Die iranischen Behörden wären ohnehin nicht darauf eingegangen und hätten ihn danach womöglich als abgebrühten Professionellen behandelt, der nichts ohne Anwalt macht. Es war ja noch immer denkbar, dass B. von einem Tag auf den andern freikam, wenn die Befrager alles wussten.
III
In aller Herrgottsfrühe wurde an B.s Zellentüre gehebelt.
«Birun», sagte der Gefängniswärter schroff – es war die Aufforderung herauszukommen. B. musste den Toilettenkübel leeren und Wasser nachfüllen. Er hatte in der ersten Woche seiner Gefangenschaft gelernt, dass das Farsi-Wort für «Heraus» völlig unterschiedlich gesagt wurde, je nach Wärter