Malagash. Joey Comeau. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joey Comeau
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783903081802
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abgesehen davon? Simpel. Also ja, ich mag die Art, wie sie sich kleidet. Aber es ist schwer, jemanden zu mögen, dessen Arbeit es ist, dich wie ein Kind zu behandeln.

      Sie ist eine Psychiaterin, habe ich herausgefunden. Sie hat es mir noch nicht gesagt. Sie geht einfach voran. Einen langen Krankenhausflur nach dem anderen. Sie sagt auch nicht, wohin wir gehen, aber es gibt farbige Streifen auf dem Boden. Sie führen in verschiedene Richtungen. Farben kommen und Farben gehen, aber eine bleibt immer unter unseren Füßen. Blau, was eine Legende an der Wand für mich als „Kinderpsychiatrie“ dechiffriert.

      Unser Ziel ist ein Raum, der eindeutig für Kinder gedacht ist. Kinder-Kinder, meine ich. Dinger im Hungerhaken-Alter. Aber ich bin hier, also schätze ich, ist er auch für mich gedacht. Offenbar gibt es keine institutionelle Unterscheidung zwischen mir und dem Hungerhaken. Zwei Eier, eins wie das andere, obwohl er halb so alt ist wie ich.

      Trotzdem ist der Unterschied zwischen mir und meinem Bruder noch so groß, dass sie beschlossen haben, sich getrennt um uns zu kümmern. Er ist noch im Krankenzimmer und wartet darauf, dass er an der Reihe ist. Die Ärztin zieht einen Stuhl für mich und einen für sich heraus. Überall sind Plüschkreaturen, ein weicher Alligator, wuschelig und dunkelgrün, ein Nilpferd hängt auf einer Box mit Latexhandschuhen, ein ausgestopfter Adler, seine Flügel ausgestreckt und sein Schnabel verfilzt.

      „Ich wurde gebeten, dir zu helfen, dich vorzubereiten“, sagt die Ärztin. Ich brauche das nicht. Ich weiß, dass mein Vater im Sterben liegt, und ich weiß, was ich tun muss. Der Hungerhaken ist derjenige, der hier sein sollte. Er würde sich perfekt einfügen. Ich kann ihn mir vorstellen, wie er einen liebenswerten Raubvogel umarmt, sein Gesichtsausdruck so leer wie eh und je.

      Wir sind zurück in der Stadt für einen Scan, den sie nur in einem richtigen Krankenhaus machen können. Niemand hat große Hoffnungen. Ich frage mich, ob diese Ärztin die Idee meiner Mutter war. Aber das ist gemein von mir. Meine Mutter ist nicht gehässig. Und sie ist auch nicht geschmacklos. Meine Mutter ist besser als das.

      Die Ärztin redet und redet. Sie redet nicht annähernd so effizient, wie sie sich kleidet.

      Menschen sind so repetitiv. Warum? Die Art, wie sie reden, ist nutzlos. All die Information ist in den Kontext und jene wenigen, ersten Worte gepackt. Der Rest ist Wiederholung, Redundanz, Betonung. Zeitverschwendung. So reden jetzt alle. Hör sie dir an. Werden alle Gespräche so sein? Für den Rest meines Lebens? Ich hasse das.

      Und schau dir diese Spielzeuge an. Keine dieser Kreaturen ist in der wirklichen Welt weich. Perversionen von Gefahr, verdrehte, liebenswerte Schatten des Todes, umarmbar gemacht. Bedeckt von Schnee.

      „Eine Last wird sich heben“, möchte ich sagen.

      „Dein Vater wird sterben. Er hat große Angst“, sagt die Ärztin.

      Und dann sagt sie es noch eine halbe Stunde lang.

      >_

      Auf dem Flur spiele ich einen Teil der Aufnahme ab.

      „Dein Vater wird sterben. Er hat große Angst“, sagt die Ärztin.

      Das ist eine Verschwendung meines Telefonspeicherplatzes. Ich lösche jede Sekunde von ihr.

      Sie ist für immer fort.

      >_

      Als ich hineinkomme, ist keine Zeit für einen Witz über die Kuscheltiere. Meine Mutter steht bereits, und sie nimmt mich in den Arm, bevor ich ein Wort sagen kann. Ich umarme sie auch und vergesse meinen sorgfältig formulierten Witz. Ich drücke sie fest, weil es unerwartet ist. Weil es warm ist und ich sie liebe, und weil sie uns wirklich nie in den Arm nimmt. Egal aber, wie fest ich zudrücke, sie drückt fester. Es ist sehr schwierig, nicht zu weinen anzufangen.

      Ich kann meinen Vater jetzt noch nicht anschauen. Stattdessen schaue ich über die Schulter meiner Mutter zu Simon. Er starrt uns ausdruckslos an.

      Hinter uns taucht die Ärztin wieder auf. Ganz in Schwarz, überhaupt nicht wie ich. Sie klopft an der Tür mit demselben gespielt-zaghaften Klopfen wie bei ihrem ersten Besuch. Meine Mutter lässt mich los und nimmt den Hungerhaken bei der Hand.

      „Hallo Simon“, sagt die Ärztin zu ihm. Sie dreht sich um und geht voran. Meine Mutter und mein Bruder verschwinden im Flur, sie folgen der blauen Linie auf dem Boden. Ihre Runde im Schutzgebiet für entkrallte Raubvögel.

      Auf dem Nachttisch meines Vaters stapeln sich Bücher. Taschenbücher und gebundene. Bücher aus der Bibliothek und brandneue Anschaffungen. Thriller. Harte, skrupellose, kaltherzige Macher, die trotzdem am Ende das Richtige tun. Ich habe versucht, sie zu lesen. Ich habe es wirklich versucht. Es hätte etwas sein können, das ich mit ihm teilen könnte. Aber sie geben mir nichts. Sie fühlen sich leer an.

      Mein Vater hat eine Schwäche für sie. Sein Wort: Schwäche. Schwäche scheint aber nicht ganz korrekt zu sein.

      Eine Schwäche dafür, überhaupt keine Schwächen zu haben? Eine Schwachstelle für Gewalt und Happy Ends? Eine Schwäche dafür, dass alles jedes Mal gut ausgeht? Gemäß dem Plot-Twist natürlich. Eine Schwachstelle für den Plot-Twist.

      „Wie ist es gelaufen?“, fragt mein Vater.

      Ich bin immer noch etwas zittrig von der Umarmung meiner Mutter. Die Bücher wirken wie die perfekte Ablenkung. Ich zeige darauf.

      „Echt?“, sage ich. „Mehr?“

      Er zuckt mit den Schultern.

      „Sterben heilt Langeweile nicht“, sagt er. Er schaut mich immer noch an und denkt über die Psychiaterin nach.

      „Sie haben mir gesagt, dass du sterben wirst, und dass du große Angst hast“, sage ich zu ihm. „Sie haben mir gesagt, dass ich für uns beide tapfer sein muss.“

      „Wie im Fernsehen?“, sagt mein Vater.

      „Wie im Fernsehen“, sage ich. Ich liebe sein Lächeln.

      >_

      In diesen letzten Tagen seines Lebens ist etwas hinter den Schmerzen meines Vaters und hinter den Witzen meines Vaters gewachsen. Es ist nicht die Angst, die zu erwarten ich instruiert wurde. Die ist natürlich da. Es gibt Augenblicke, in denen mein Vater ängstlich aussieht. Immer, wenn meine Mutter hier ist, als wäre er ihr zuliebe ängstlich. Oder vielleicht ist er mir zuliebe stark. Aber das meine ich nicht. Das ist nicht das, was ich hinter seinen Augen wachsen sehe. Es ist auch keine Tapferkeit. Es ist etwas komplett anderes. Eine Ruhe und eine Zuversicht haben in ihm Wurzeln geschlagen.

      Ich sollte nicht „diese wenigen letzten Tage seines Lebens“ sagen. Meine Mutter verkrampft sich, wenn ich solche Dinge in Simons Gegenwart sage. Wenn ich zu nahe an eine ehrliche Einschätzung komme. Ich muss so reden, wie sie redet, dem Hungerhaken zuliebe. Ich muss vorsichtig sein. Niemals lügen, aber die Wahrheit nicht herausrutschen lassen. Er wird schmelzen, wenn die Wahrheit ihn berührt. Entsprechend sprießt die Hoffnung in der Gegenwart meines Bruders ewiglich. Es gibt immer Hoffnung. Ohne Hoffnung sind wir verloren. Hoffnung ist ein strahlendes Licht in der Dunkelheit dessen, was wirklich passiert, und solange wir meinen kleinen Bruder gut beleuchtet halten, wird niemals etwas Schlimmes passieren und alles wird am Ende gut werden.

      „Wirst du sterben?“, fragt der Hungerhaken meinen Vater heute. Niemand hat mir gesagt, wie seine Sitzung mit der Psychiaterin lief.

      „Wir wissen es nicht mit Sicherheit“, sagt meine Mutter, obwohl wir es tun. Wir wissen es mit Sicherheit.

      „Hoffnung sprießt ewiglich“, sage ich ernst.

      Meine Mutter wirft mir einen drohenden Blick zu. Ich schaue unverwandt zurück.

      „Was bedeutet das?“ Mein Bruder schaut jetzt mich an, er ist verwirrt.

      „Ohne Hoffnung sind wir verloren“, sage ich. „Es gibt immer Hoffnung. Hoffnung ist das strahlende Licht in der tiefsten Dunkelheit.“

      Ich versuche, eine todernste Miene aufzusetzen, so, wie mein Vater es tut.