Malagash. Joey Comeau. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joey Comeau
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783903081802
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aussehen. Der Atlantische Ozean taucht höchstpersönlich auf, um neben uns herzufahren. Dann schlüpft er davon.

      Ich sitze vorne, erneut habe ich mein Telefon in der Hand. Das Glas- und Metallobjekt, das einmal mein Telefon war. Ich habe niemanden mehr, den ich anrufen könnte. Was eine Erleichterung ist, weil ich keine Kraft mehr habe, mich zu verstellen. Es gibt nur eine begrenzte Menge von Kondolenzbekundungen, die ein Körper aushalten kann. Nur eine begrenzte Menge von Updates über alles, bei dem man gefehlt hat, bis sie einem nicht mehr fehlen.

      Ich verwende mein Telefon, um meine Mutter aufzunehmen. Das dumpfe Geräusch der Schlaglöcher. Wacklige, flüchtige Videoeindrücke von den vorbeigleitenden Landhäuschen. Der Hungerhaken, der vor sich hin summt. Die vorbeirasenden Bäume. Das Telefon nimmt alles auf, was es kann, während wir zum ersten Mal durch die Heimatstadt meines Vaters fahren. Säuberliche kleine Häuser, für die Privatsphäre mit ausreichend Abstand zueinander, jedes ist auf seinem eigenen Stück wunderschönen Seeblicks positioniert. Es gibt einen alten Kramladen mit einer sterbenden PIZZA-Neonreklame.

      Über dem Matsch ist die Stimme meiner Mutter zu hören. Der Matsch streckt sich bis zum grün-grauen Ozean.

      „Gemeinde wäre der höfliche Begriff“, sagt sie. „Tatsächlich ist es ein Elefantenfriedhof für Menschen.“ Ein Lachen ist in ihrer Stimme, als würde sie uns aufziehen. Dieser Ort ist ihr vertraut. Weder Simon noch ich waren jemals hier, aber Mom und Dad verbrachten an diesem Ort ein ganzes Leben. Sie lebten hier zusammen, bevor Simon oder ich geboren waren. Mit dem Telefon am Fenster nehme ich auf, was ich kann. Es gibt eine Kirche, einen Weinberg, eine aufgegebene Salzmine irgendwo unter uns, ein Bibelcamp, einen Kai, von dem aus Hummerfischer einst in See stachen. Vielleicht tun sie es immer noch? Noch ein Kai. Noch einer. Kais sehen immer verlassen aus. Es gibt einen echten Friedhof rund um die Kirche. „Weiter als bis zu diesen Gräbern kommen einige dieser Leute nie“, sagt meine Mutter, während wir daran vorbeifahren.

      Ein paar Fakten, an die meine Mutter sich erinnert:

      „Die Straße wird durch den Lehm so rot. Sie haben benutzt, was sie zur Verfügung hatten. Schaut mal, wie rot auch die Erde ist.“

      „Bei Ebbe kannst du ewig laufen und das Wasser reicht dir nicht höher als bis zur Hüfte.“

      „Diese Landhäuschen dort gehörten der Tante und dem Onkel eures Vaters, Edie und Harry. Zwei getrennte Landhäuschen direkt nebeneinander. Ist das nicht perfekt? Es hat ihre Ehe gerettet.“

      Es war nicht notwendig, uns zu überzeugen, hierherzuziehen. Wir haben nicht gebettelt oder gestritten. Unser Vater wollte zurück nach Hause nach Nova Scotia, um nahe bei seiner Mutter und seinen Kindheitserinnerungen zu sterben. Wir wollten bei unserem Vater sein. Die Rechnung war sehr einfach. Bringt uns, wohin ihr wollt, solange wir bei ihm sein können. Der Rest war völlig egal.

      Alles, was wir brauchen, ist hier. Wir haben unsere Klamotten. Simon hat seine Puzzles und seine Spielsachen, und ich habe meine Computer. Wir werden nicht ewig hier sein, denke ich. Bloß für das restliche Leben meines Vaters.

      >_

      Ich nehme die Stimme meines Vaters mit meinem Telefon auf. Audio, aber kein Video. Ich mache mir zu große Sorgen darüber, wie dünn seine Arme sind und wie blass sein Gesicht ist. Ich nehme seine Stimme auf, weil seine Stimme sich noch richtig anhört. Er klingt wie mein Vater, und es ist mein Vater, an den ich mich erinnern möchte.

      Ich nehme ihn bei jedem Besuch auf. Seine Witze und sein Lachen. Sein ruhiges Akzeptieren des Todes. Seine Wortspiele. Das Kratzen in seiner Stimme, wenn er über meinen kleinen Bruder spricht, den Hungerhaken. Wenn er über meine Mutter spricht. Über mich. Ich habe mir noch nie etwas so genau angehört, wie ich mir diese Aufnahmen anhöre. Das Auf und Ab des Tonfalls. Die Gründe für jede kleine Flexion. Es gibt so viel Bedeutung in jeder dummen, kleinen Sache, die wir von uns geben.

      Manchmal halte ich das Telefon in meiner Hand. Manchmal lege ich es auf den Tisch oder auf das Bett neben ihn. Also schwankt die Tonqualität. Das kann dazu führen, dass er sich weit weg anhört, wenn ich es mir zu Hause anhöre. Als ob seine Stimme durch einen dichten, vorgezogenen Vorhang zu mir kommen würde. Aber das liegt nur daran, dass er noch am Leben ist. Wenn er tot ist, werden sich die Aufnahmen näher anhören.

      Ich nehme alles auf. Dann kopiere ich alles auf einen Laptop, den ich golden spritzlackiert habe. Auf die Oberseite des Laptops habe ich ein altmodisches Kreuz in weiß mit einer Schablone draufgesprüht. Ich weiß absolut nichts über Religion. Das hat nichts mit Religion zu tun.

      Ich bin gründlich mit meinen Aufnahmen, aber sie zu sortieren, ist schwierig. Ich teile sie in Phrasen, Sätze auf. Jede Aufnahme wird in ihre Teile zerlegt. Manchmal sind es nur einzelne Wörter oder Geräusche. Manchmal ist es ein Lachen. Ich habe so viele Variationen von seinem Lachen.

      schnelles_lachen.wav

      schneidendes_abschließendes_lachen.wav

      langes_schallendes_lachen.wav

      längeres_lachen_zusammen_mom.wav

      trauriges_lachen.wav

      unerwartetes_lachen.wav

      lachen_fuer_mich.wav

      Aber das Wichtigste ist die Stimme meines Vaters. Die Wörter.

      poetisch.wav

      du_bist_meine_tochter.wav

      sunday.wav

      sunday_sunday_sunday_monster_truck.wav

      bienchen_und_bluemchen.wav

      schlaefrige_stadt_bedecken.wav

      ansehnlich_alt.wav

      huehner.wav

      ein_blatt.wav

      „Eine Last wird sich heben“, sagt er. „Ein Blatt wird fallen.“ Ich sammle die Worte meines Vaters. „Frischer, weißer Schnee wird diese ganze, schläfrige Stadt bedecken.“

      Ich habe eine Datenbank angelegt, um den Überblick zu behalten. Jede Datei bekommt einen Eintrag in der Datenbank. Jeder Dateiname wurde einem Transkript und einem Textfeld zugeordnet, in dem ich versucht habe, den Kontext zu beschreiben. Aber das war nicht genug. Also habe ich Textfelder für Inhalt, Tonfall, für Gesichtsausdrücke hinzugefügt. Es gibt so viel, an das man sich erinnern muss. Verwirrung. Gespielte Empörung. Metapher. Es ist ein unbenutzbares Datenchaos.

      Nachts spiele ich mir seine Stimme in langen Nonsensschleifen vor, bevor ich einschlafe. Wie eine Gutenachtgeschichte. Wie ein Schlaflied.

      >_

      Unser Zimmer ist voller Blumen. Sie sind auf der Tapete, der Decke. In den Türrahmen geschnitzt. Sie sind auf die zu kleinen Stühle gemalt, die vor dem Bücherregal stehen. Dieses ganze Zimmer fühlt sich merkwürdig aus der Zeit gefallen an, wie ein altes Foto.

      Der Hungerhaken und ich teilen uns ein Stockbett. Er zieht das untere Bett vor, aus Angst, im Schlaf hinauszufallen. Aber mir macht es nichts aus. Ich habe kein Problem mit dem oberen Bett. Wenn ich hier oben bin, fühlt es sich getrennt vom Rest des Raums an, privater. Und es ist mir egal, wenn ich hinausfalle.

      Wenn ich die Wahl hätte, hätte ich lieber ein richtiges Bett und mein eigenes Zimmer. Es gibt zwei weitere Zimmer in diesem Stock, aber sie sind nicht für uns bestimmt. Eines ist für unsere Onkel, sobald sie ankommen; das andere ist für unsere Mutter. Dieses Zimmer ist unseres.

      Ich bin allerdings ein wenig zu groß für das Bett. Meine Füße drücken gegen das Fußende, und es ist kein Platz für einen Computer. Erst recht nicht für drei. Das wäre zu einem Problem geworden. Also habe ich den Schrank ausgeräumt. Habe ihn in Besitz genommen. Die Tür ist nicht schalldicht, aber es ist dunkel darin, und privat, und ich mag es sogar irgendwie, dass ich meine Knie an meine Brust pressen muss, um hineinzupassen. Während also mein Bruder schläft, rolle ich mich vor den Geräten zusammen und lade die Stimme meines Vaters hoch. Ich erstelle neue Einträge in der Datenbank.

      „Guten Morgen, Sunday“,