Zunächst war ich ganz verwirrt; denn ich wusste nicht recht, wie ich damit umgehen sollte. Dann empfand ich, einmal aufmerksam geworden, die in diesen Tagen vor und nach dem 08. Mai zunehmend antideutsche Stimmung in der Schule. Das war auch nur zu verständlich; denn der Krieg war ja erst seit 11 oder 12 Jahren vorbei, also eigentlich erst seit ganz kurzer Zeit. Wir deutschen Schüler bemühten uns, in diesen Tagen durch ganz besonders nettes und freundliches Verhalten gegenzusteuern, und unser deutscher Lehrer versuchte, in Vorträgen aufzuklären und für Entspannung zu sorgen.
In diese Zeit fiel auch ein Ereignis, das mich zutiefst berührte: In meiner Klasse war neben vielen anderen Nationen auch ein italienischer Junge, der besonders nett war und in der Klasse neben mir saß. Je besser mein Französisch wurde, desto besser verstanden wir uns. Er war, wie wir wussten, jüdischen Glaubens. Eines Tages erschien er nicht mehr zum Unterricht und von unserem Klassenlehrer wurde uns lediglich mitgeteilt, dass er die Schule verlassen habe. Ein Grund wurde uns nicht genannt.
Wenige Tage später jedoch kam mein Vater abends ganz erschüttert nach Hause und erzählte uns, dass er morgens im Dienst von dem Direktor unserer Schule angerufen worden sei und dieser ihn um ein Gespräch am Spätnachmittag nach Schulende gebeten habe; denn mein Vater war Elternvertreter für die deutschen Schüler an der Schule. Selbstverständlich fuhr mein Vater sofort nach Dienstschluss in die Schule und begab sich zu Monsieur Tallard, unserem Direktor. Monsieur Tallard eröffnete ihm, dass er wenige Tage zuvor Besuch von den Eltern dieses italienischen Jungen aus meiner Klasse gehabt habe. Die Eltern hätten ihm erklärt, dass sie Juden seien und ihre Familien im Krieg ganz entsetzlich unter dem deutschen Nationalsozialismus gelitten hätten. Zahlreiche Familienmitglieder seien in Konzentrationslagern umgekommen. Und nun hätten sie zu ihrem Entsetzen gehört, dass auch deutsche Schüler diese Schule besuchten und dass ihr Sohn sogar in seiner Klasse neben einem deutschen Mädchen säße. Sie hatten Monsieur Tallard aufgefordert, sofort dafür Sorge zu tragen, dass die deutschen Schüler die Schule verließen und dass vor allen Dingen ihr Sohn nicht mehr mit deutschen Schülern zur Schule gehen und die Schulbank teilen müsse. Der Direktor, ein sehr weltoffener und kluger Mann, hatte den Eltern erklärt, dass sie sich doch in Kenntnis der Tatsache, dass es sich bei diesem Gymnasium um eine internationale Schule handele, für diese Schule für ihren Sohn entschieden hätten und jedes Kind, gleich aus welchem Land, das Recht hätte, diese Schule zu besuchen. Er habe sich große Mühe gegeben, so versicherte er meinem Vater, dieses aufgebrachte Elternpaar zu beruhigen und ihnen sein Mitgefühl für das im Dritten Reich erlittene Unrecht auszudrücken, er habe ihnen aber gleichzeitig erklären müssen, dass er nicht in der Lage sei, Schüler einer Nation von der Schule zu verweisen. Daraufhin hätten die italienischen Eltern sich entschlossen, ihren Sohn von der Schule zu nehmen. Nun hatten wir also die Erklärung für den plötzlichen Verlust unseres Klassenkameraden. Und nicht nur das, wir waren alle zutiefst verstört; denn es war für uns nie ein Thema gewesen, welcher Glaubensrichtung der einzelne Klassenkamerad angehörte. An unserer Schule waren fast alle Religionen vertreten, das war für uns etwas ganz Normales, und nun gab es plötzlich dieses Problem. Ich selbst fühlte mich schuldig, ohne recht zu wissen warum, denn der italienische Klassenkamerad hatte ja neben mir gesessen, wir hatten uns gut verstanden, und sicher hatte er auch zu Hause von mir erzählt, so wie ich von ihm.
In der Folgezeit wurde in unserer Klasse – und nicht nur in unserer, sondern auch in den anderen höheren Klassen – sehr ausführlich im Unterricht über die Katastrophe der Judenverfolgung in Deutschland gesprochen, und vor allen Dingen wir deutschen Schüler stellten fest, wie wenig wir zu diesem Zeitpunkt über das Geschehen in unserer Heimat, das ja nun noch gar nicht so lange zurücklag, wussten. Je mehr ich erfuhr, desto mehr bedauerte ich, dass ich mit meinem so plötzlich verschwundenen Banknachbarn nicht mehr über all das reden konnte, was da Entsetzliches geschehen war, und ihm versichern konnte, wie erschüttert ich war.
Als ich dann für die letzte Klasse, die Oberprima, nach Deutschland zurück auf ein Gymnasium nach Heidelberg wechselte, bekam ich dort eine ganz bemerkenswerte Geschichtslehrerin, Frau Dr. Meyer-Kramer, eine Tochter des ehemaligen Leipziger Oberbürgermeisters Carl Friedrich Goerdeler, der als einer der führenden Köpfe des deutschen Widerstandes im Rahmen der Prozesse um den 20. Juli 1944 hingerichtet worden war. Auch sie machte den 08. Mai 1945 und die ganze Katastrophe des Dritten Reiches zum Gegenstand des Unterrichts und zwar so lebendig, dass meine ganze Klasse das Gefühl hatte, das Vergangene selbst unmittelbar miterlebt zu haben. Es war gleichermaßen bedrückend und befreiend für uns alle.
Aus den Augen verloren und vergessen habe ich den Tag bis heute in keinem Jahr und bis heute denke ich an jedem 08. Mai darüber nach, wie es wohl meinem Klassenkameraden ergangen und was aus ihm geworden ist. Allerdings lernte ich im Studium einen Kommilitonen kennen, mit dem mich bis heute eine herzliche Freundschaft verbindet, der am 08. Mai, allerdings 1943, geboren war, und wir haben seitdem an diesem Tag auch viele schöne und vergnügte Geburtstage gefeiert.
Ein Augenblick
Ich saß im Zug von Heidelberg nach Norden, nach Hause. In vier Wochen wollte ich dort, im Hause meiner Großeltern, meine Hochzeit feiern und es galt, jetzt die letzten Vorbereitungen zu treffen. Glücklich und entspannt saß ich im Zugabteil, las in einem Buch und freute mich auf die geliebten Großeltern und die schöne Zeit, die vor mir lag. Irgendwann, ich wusste nicht genau warum, hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Vorsichtig sah ich mich um und musterte die mit mir im Abteil sitzenden Fahrgäste, auf die ich bisher noch überhaupt nicht geachtet hatte. Zuletzt fiel mein Blick auf eine mir direkt gegenüber sitzende Dame, die mich ebenfalls ansah. Sie war offensichtlich groß, schlank, dunkelhaarig, sah attraktiv aus und war elegant gekleidet. Schnell senkte ich meinen Blick wieder auf mein Buch und versuchte, mich auf seinen Inhalt zu konzentrieren. Es gelang mir nicht richtig und so oft ich auch in Abständen immer wieder kurz aufsah, die dunkelhaarige Dame sah mich an. Ich überlegte, ob es sich noch lohnte, das Abteil zu wechseln; aber ein Blick auf meine Uhr sagte mir, dass wir in einer halben Stunde in Bremen einliefen, wo ich aussteigen musste. Ein Wechsel lohnte sich also nicht mehr. Plötzlich sagte die Dame zu mir: „Es stört Sie, nicht wahr, dass ich Sie so beobachte?!“ „Das kann man wohl sagen“, erwiderte ich, „zumal ich mir nicht erklären kann, warum Sie das tun!“
„Sie erinnern mich sehr stark an jemanden, den ich gut gekannt habe – würden Sie mir wohl Ihren Namen sagen?“
„Nein!“, entgegnete ich, „ich sehe keinerlei Veranlassung, das zu tun!“
„Dann will ich es Ihnen sagen“, entgegnete sie, „heißen Sie Meyer-Bornemann?“ Sie sah meine Verblüffung und setzte hinzu: „Sehen Sie, ich habe Ihren gefallenen Vater sehr gut gekannt – und Sie sehen aus wie er. Ich wünsche Ihnen viel Glück.“
In meiner Verwirrung war ich froh festzustellen, dass der Zug in den Bremer Bahnhof einlief. Ich raffte meine Sachen zusammen und verließ nach kurzem Abschiedsgruß das Abteil. Auf dem Bahnsteig fiel ich meinen Großeltern, die mich erwarteten, in die Arme und berichtete ihnen mein eben gehabtes Erlebnis. „Wie sah die Dame denn aus?“, fragte mein Großvater, und als ich sie beschrieben hatte, sah ich, wie meine Großeltern sich anlächelten, und dann sagte meine Großmutter: „Das war die Dame, die Deinen Vater sehr gerne geheiratet hätte, und er sie wohl auch, nur dann lernte er Deine Mutter kennen.“
Renate Dahms
Geboren 1941 in einem kleinen Vorort von Düsseldorf. Als jüngstes Kind von vier Geschwistern war sie die meiste Zeit sich selbst überlassen. Ihre Gestaltungsfreude war und ist der Motor für ihr Leben. Sie hat in Allem ihr eigenes „Rezept“.
Mein Lied im Wind
Mein