Dem Neuen entgegen leben. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Автор
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Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783957446046
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nicht einmal solch starke Reize. Einmal verbrachte ich einen Nachmittag mit meiner Mutter in unserem Garten. „Ich spür so gern die Sonne auf der Haut.“, meinte ich genussvoll. „Wenn der Himmel so richtig blau ist, habe ich immer auch Angst“, entgegnete meine Mutter und erzählte mir, dass im Krieg bei dieser Wetterlage die feindlichen Flieger kamen. Ich erinnere mich genau, wie schockiert ich war und noch heute kommt mir bei strahlend blauem Himmel häufig die Angst meiner Mutter in den Sinn.

      Wenn wir heute Nachrichten über Kriege in anderen Ländern bekommen, erhalten wir nüchterne Statistiken. Gezählt werden Tote, Verletzte, zerstörte Häuser oder abgeworfene Bomben. Wenig hören wir von den Ängsten der Kinder, davon, wie Waisen ihre Eltern vermissen oder welche Alpträume sie haben. Solch tiefe Erfahrungen aber sind längst nicht befriedet, wenn der Frieden beschlossen ist. Sie wirken nachhaltig in uns fort.

      In diesem Buch haben sich Kriegskinder und -enkel der Frage gestellt, wie Erlebnisse der Kriegs- und Nachkriegszeit in ihnen nachgewirkt haben. Zu Beginn des Projektes äußerten einige spontan: „Nein, damals war ich noch zu klein. Damit habe ich nichts zu tun.“ Dabei ist es nicht geblieben. War die Tür in diesen Erinnerungsbereich erst einmal geöffnet, ergaben sich tiefe Einblicke. Andere Mitglieder der Schreibgruppe „Schreibzeiten“, die dieses Buch erarbeitet hat, überlegten, ob sie überhaupt noch einmal so intensiv hinschauen wollten. Manche entschieden sich aus guten Gründen dagegen. Andere haben im Laufe der Arbeit ein Stück mehr Verständnis für bestimmte Gefühle oder Verhaltensweisen entwickelt.

      Befreiend waren die Momente, in denen Autorinnen sich lange Zurückgehaltenes von der Seele schreiben und miteinander teilen konnten. Erfreulich war, wenn jemand feststellen konnte, dass es über die Jahre gelungen war, belastenden Erlebnissen die Schrecken zu nehmen. Angenehm waren Erkenntnisse darüber, dass Erfahrungen verarbeitet und auch zum Teil positiv gewendet worden waren.

      Dieses Buch ist das sichtbare Ergebnis einer mehr als einjährigen gemeinsamen Arbeit. Bewegt haben uns dabei auch die heutigen Kriege auf der Welt. Käthe Kollwitz forderte „Nie wieder Krieg“. Dem können wir nur zustimmen.

       Erny Hildebrand

       Schreibgruppenleiterin und Psychotherapeutin

       Christa Anderski

       1945 in Köln geboren, 5 Kinder. Zeitweise lebte und arbeitete sie in England und Südamerika. Lange Zeit war sie als Psychologin in Düsseldorf tätig. Sie schreibt Biographien von Zeitzeugen im Rahmen des ASB-Projekts „Geschichtsschreiber“. Bisherige Veröffentlichungen: Lyrik in verschiedenen Anthologien, Fachbücher, Märchen.

       Kriegsende – wirklich das Ende des Krieges?

      Jahrgang Oktober 1945, das bin ich. Der Krieg mit seinen Schrecknissen war zum Zeitpunkt meiner Geburt schon fünf Monate vorbei. Und so ist der erste Gedanke, der in mir hochschießt: „Was hab ich mit dem Krieg zu tun?“ Der zweite Gedanke, der sofort darauf folgt: „Nachkriegszeit? Was habe ich mit ihr zu schaffen? Da war ich doch viel zu klein, um irgendetwas bewusst wahrzunehmen!“ Doch die Frage nach den Auswirkungen setzt sich fest, krallt sich in meine Gedanken, lässt mich nicht mehr los. Haben der 2. Weltkrieg oder die Nachkriegszeit tatsächlich keinerlei Spuren in mir hinterlassen?

      Ich mache mich auf Spurensuche. Ich trage zusammen, was ich über diese Zeit weiß. Als erstes fällt mir auf, dass meine Mutter sehr wenig aus dieser Zeit erzählt hat. Nur wenn ich sie explizit danach fragte, gab sie mir einige kurze, sachlich gehaltene Informationen. Bei jeder Frage über ihr Leben während des Krieges und der Zeit danach stieg immer wieder das Gefühl in mir auf, dass ihr derartige Fragen unangenehm waren. Sie wich aus und antwortete – wenn es nicht anders ging- ohne ihre Gefühle zu zeigen. So versiegte mein Fragen. Ich habe es hingenommen, da auch in der Schule mir ein ähnliches Schweigen entgegenkam.

      Wir Kinder aber spürten unbewusst trotzdem die geheime Trauer und Angst unserer Eltern, ihren Schmerz, ihre Scham oder ihre unausgesprochene Verzweiflung. Dieses Unbekannte, Nicht-Greifbare machte uns Angst – eine Angst vor Dingen, die wir nicht selbst erlebt hatten, sondern stellvertretend für unsere Eltern erlebten. Oft mussten wir stark sein für unsere verletzten Eltern.

      Und waren selbst verletzt. Der Psychiater Florian Holsboer sagte: „Traumata sorgen nicht nur für Narben in der Seele, sondern auch für Narben im Erbgut.“ Ich gehe dieser Spur nach. Mitten im Krieg wurde ich gezeugt. Das Durcheinander des Krieges hatte meine Eltern zusammengebracht. In Friedenszeiten wären sie sich sicher nie begegnet.

      Ich lebte in meiner Mutter im Sudetenland, einem Land, dessen deutschsprachige Gebiete 1938 von Hitler annektiert wurden. Die Tschechen wurden vertrieben und ermordet. Der Hass auf die Deutschen stieg. In dieser Zeit begann meine Menschwerdung. Ab der 15. Schwangerschaftswoche konnte ich schon Ärmchen und Beinchen bewegen. Ab der 20. Woche fing ich an zu hören. Was hörte und spürte ich? Bombenangriffe, Granateneinschläge, Flakabwehr, Schreie der Verwundeten und Verschütteten, Zusammensturz von Häusern, prasselnde Feuer und angsterfüllte Dunkelheit. Was erlebte ich durch meine Mutter? Todesgefahr, Angst, Hunger, Entsetzen vor Tod und Verwüstung, vor Brutalität; Auflösung der bisherigen Werte, Bespitzelung durch die Umwelt, ohnmächtiges Ausgeliefertsein, panische Angst vor den näher rückenden Russen, unaufhörliches Gefühl von existentieller Bedrohung.

      Die heutige Neuropsychologie würde in einer solchen Situation von einer permanenten Ausschüttung von Stresshormonen bei der Mutter sprechen, die im späteren Leben zu einer erhöhten Anfälligkeit ihres Kindes für Druck und Belastung führt, oft verbunden mit „unerklärlichen“ Angstattacken, Herz-, Atem- und Kreislaufproblemen. Dinge, die mir in der Tat bekannt sind.

      Meine Mutter entschloss sich zu fliehen, gab alles auf. Sie ließ alles zurück, was ihr wichtig geworden war, und versuchte – nur mit einem Rucksack auf dem Rücken – in den Westen, in eine ungewisse Zukunft zu flüchten. Sie erlebte den Kampf um das Einsteigen in übervolle Züge, das Recht des Stärkeren, das Alleinsein. Immer wieder blieb der Zug auf freier Strecke stundenlang stehen. Die Bombardierung der Züge, in denen sie saß oder aus denen sie flüchtete, ließ sie ständig den Atem des Todes spüren. Zwischendurch hielt der Zug, um die Leichen verstorbener Kinder oder an Erschöpfung gestorbener alter Leute auszuladen. Manchmal schlug sie sich kilometerweit zum nächsten Bahnhof durch, um wieder in einen einsatzbereiten Zug steigen zu können. Über 1000 Kilometer Weg – eine von Existenzangst durchtränkte Ewigkeit.

      Sie erreichte das Rheinland, suchte nach einer Bleibe in der vom Krieg total zerstörten Stadt Köln: abertausend Ruinen, durch Trümmer verschüttete Straßen, Hunger, Armut – ein grausamer Überlebenskampf erwartete sie.

      Zum Zeitpunkt meiner Geburt wanderte sie durch die Stadt, um ein Krankenhaus zu finden, in dem sie entbinden konnte. Aber „es gab keinen Raum in der Herberge“. Hochschwanger klopfte sie vergeblich an Krankenhauspforten. Niemand nahm sie auf. So irrte sie kilometerweit. Dann endlich kam ich auf die Welt. Eine Nottaufe fand statt, da es nicht sicher war, ob ich überleben würde. Aber ich überlebte, und meine Mutter brachte sich und mich sicher nach Hause.

      Ich trank nicht genug. Meiner Mutter fiel das nicht auf, da sie felsenfest davon überzeugt war, dass Kinder instinktiv so lange essen, bis sie satt sind. Es war ihr unvorstellbar, dass ein Säugling nicht genug trinkt, obwohl genügend Milch vorhanden war. Ich kam schließlich wegen lebensbedrohlicher Unterernährung in ein Krankenhaus. Dort erfuhr ich mein erstes Alleinsein, denn meine Mutter durfte und konnte nicht bei mir bleiben.

      Als ich ein Jahr alt wurde, gab sie mich in ein Kinderheim. So konnte sie in dieser äußerst schwierigen Nachkriegszeit – ohne die Belastung durch mich – Geld für unseren Lebensunterhalt verdienen.