Irgendwann nach meinem sechsten Geburtstag holte mich meine Mutter wieder zu sich. In der Folgezeit erinnere ich mich an immer wiederkehrende Sprüche wie: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“ oder „Stell dich nicht so an!“ oder „Mach nicht so ein Theater!“ Diese Worte trafen mich schmerzlich in Situationen, in denen ich Trost und emotionales Mitschwingen gebraucht hätte. Ich war hingefallen oder meine Puppe hatte ihr Bein verloren. Ich wollte getröstet und in den Arm genommen werden. Diesen Trost erhielt ich aber nicht. Und so lernte ich bald, keine Gefühle zeigen zu dürfen. Es war nicht richtig, zu weinen oder zu klagen. Man musste funktionieren, ohne eigenen Gefühlen Bedeutung zu geben oder sie gar zu zeigen. Auch der Austausch von positiven Gefühlen oder Zärtlichkeiten war äußerst selten und schamhaft besetzt. Auch das lernte ich schnell.
Endlich Schulkind
Und so haben meine Mutter und ich nie über unser Innerstes, unsere Empfindungen miteinander gesprochen. Wir haben uns voreinander abgekapselt; jeder machte seine Probleme mit sich selbst aus und behielt seine Gefühle für sich. Die für meine Mutter überlebenswichtige Verleugnung der Gefühle, der lebensnotwendige Selbstschutz, um die traumatischen Erlebnisse des Krieges überstehen zu können, hatte sie an mich weitergereicht.
Erst viel später wurde ich mir dieser unterdrückten Emotionalität bewusst. Eines Tages fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Zuneigung kannst du weder zeigen noch verbalisieren. Auch körperliche Zuwendung ist dir fremd. Du kannst sie weder geben noch empfangen. Sogar noch heute passiert es mir manchmal, dass ich kämpfen muss, diese innere Sperre zu überwinden. Ich spüre plötzlich Scham, wenn ich meine erwachsenen Kinder umarme, obwohl ich sie liebe. „Lass dich nicht so gehen! Mach nicht so ein Theater!“ hallt dann eine Stimme in mir.
Dazu kam noch eine unbewusste Wut auf meine Mutter. Uneingestanden brannte sie in mir und errichtete eine weitere unsichtbare, undurchlässige Mauer zwischen uns. Das Gefühl des Abgeschoben-Worden-Seins erstickte jede Nähe und tiefes Vertrauen. Die Unterbringung in dem Kinderheim war kriegsbedingt, aber von mir emotional lange Zeit als Ablehnung verstanden worden.
Ich forsche weiter. Welche Wesensarten oder Verhaltensweisen hat meine Mutter an mich weitergereicht? Ich lausche in mich hinein. Gibt es da weitere Sprüche, die sich tief in mich eingegraben haben? „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!“ „Mit Essen spielt man nicht!“ Die Angst vor dem Hunger, der Mangel an Essen während des Krieges und der Nachkriegszeit hatte diese Haltung bei meiner Mutter entstehen lassen. Sie wurde an mich weitergegeben. Ich kann mich noch gut erinnern, wie verkommen und schuldig ich mich fühlte, als ich eines Tages eine halbe, vertrocknete Brotschnitte heimlich in den Mülleimer warf. Auch heute in der Überfülle des Wohlstands ist es für mich immer noch sehr schwierig, Essen wegzuwerfen.
Ich habe auch einen Drang zum Hamstern von Lebensmitteln. Es ist für mich unabdingbar, dass immer ein bestimmter Vorrat an lebenswichtigen Esswaren im Haus sein muss, obwohl ich sie heutzutage fast zu jeder Zeit in einem Geschäft kaufen kann.
In unserem Haus fehlte der Vater, wie bei so vielen anderen Kindern meiner Generation. 2,5 Millionen deutscher Kinder waren durch den Krieg Halbwaisen, 100.000 zu Vollwaisen geworden. Die Vaterlosigkeit spielte in meinem Leben eine wichtige Rolle. Zunächst war ich mir dessen nicht bewusst. Ich wuchs auf mit der Gewissheit, dass mein Vater im Krieg gefallen war, und der Erfahrung, dass das Thema „Vater“ tabuisiert war. Ich fragte nicht nach ihm, ich traute mich nicht, über ihn zu sprechen. So verdrängte ich ihn und die Folgen der Vaterlosigkeit aus meinem Bewusstsein.
Dann aber, erst vor wenigen Jahren, wurde dieses Tabu durch einen nicht vorhersehbaren Zufall durchbrochen. Ich erfuhr, dass mein Vater noch lebte. Plötzlich stand die Frage nach einem Vater, meinem Vater, im Raum; ich konnte und wollte ihr nicht mehr ausweichen. Plötzlich wurde ich mir der Leere in mir bewusst. Ich fühlte mich irgendwie halbiert. Die eine Hälfte von mir, die Mutter, war mir bekannt. Sie konnte ich jeden Tag erleben. Aber die andere Hälfte, die mich auch ausmachte, lag im Dunkeln. Wer war mein Vater? Wie war mein Vater? Bestehen Ähnlichkeiten zwischen ihm und mir? Die kärglichen Informationen, die ich von meiner Mutter erhalten hatte, halfen mir wenig, das schwarze Loch, das ich immer stärker spürte, zu füllen. Ich wusste nichts über meinen Vater, ich wusste aber auch nicht, wie es sich anfühlt, einen Vater zu haben. Ich hatte Schwierigkeiten, meine Identität zu finden. Das machte mich oft tieftraurig.
Der fehlende und unbekannte Vater bestimmte für eine lange Zeit meine Beziehungen zu Männern. Ich unternahm im Laufe meines Lebens mehrere Anläufe, diese Leere und dieses Verlustgefühl zu verändern.
Bei meinen Versuchen, meine im Alter immer stärker werdenden psychosomatischen Auffälligkeiten zu lindern, habe ich einen Mangel an Selbsteinfühlung und die Gefühlsferne in Bezug auf eigene Empfindungen festgestellt. So war ich lange Zeit nicht in der Lage zu sagen, wie ich mich fühlte und was ich mir wünschte. Ich fühlte mich nicht. Ich war mir fremd. Hinzu kam, dass ich nur sehr schwer über mich sprechen konnte. Deshalb blieb ich mir und auch den anderen fremd und erlebte oft das Fremd-Gefühl anderen Menschen gegenüber. Ich erinnere mich noch gut daran, wie verzweifelt ich einst war, als ich auf die Frage: „Wie kann Selbstliebe aussehen?“ keine Antwort zu geben wusste. Ich wusste es tatsächlich nicht. Ich wusste zwar genau, was Pflichterfüllung, was Verantwortlichkeit für andere war, aber was Selbstliebe war, davon hatte ich keine Ahnung.
Betrachte ich heute zurückblickend die mir bewusst gewordenen Auswirkungen des Krieges, so denke ich, dass viele von ihnen ihre Ursache in der Traumatisierung meiner Eltern haben. Wie sollte meine Mutter, deren Welt zusammengestürzt war, die tagtäglich dem Tod gegenüber gestanden und die in ihrem Leid erstarrt war, sich in die Situation und die Gefühlslage ihres Kindes hineinfühlen können? Sie kannte sich nicht einmal selbst. So verleugnete meine Mutter ihre inneren Nöte und ihren inneren Kummer, sie verdrängte ihre Gefühle und Wünsche. Sie war nicht in der Lage, sich selbst und ihr Schicksal zu betrauern und ihre schrecklichen Erlebnisse mitzuteilen. Und so gab sie unausgesprochen und unbewusst ihre Verletzungen und ihre psychischen Folgen an mich weiter und es entstand ein Zustand, den ein anderes Kriegskind einmal so ausdrückte: „Ich trage einen Schmerz, der meiner, aber doch nicht meiner ist.“ (B. Alberti, Seelische Trümmer, S. 22, Kösel, 2010)
Wenn ich zudem daran denke, dass meine Mutter, die als Erwachsene den 2. Weltkrieg erlebte, selbst ein Kriegskind des 1. Weltkrieges war, dann wird mir klar, dass sie emotionale und körperliche Nähe, emotionale Sicherheit, emotionale Verlässlichkeit und Bindungsfähigkeit nicht weitergeben konnte. Wie sollte sie als zweifach Traumatisierte die Kraft und die Fähigkeit dazu haben? Sie konnte ihre Zuneigung allein durch materielle Versorgung zeigen – in Form von Essen, Trinken, Haus und Geld.
Als Nachkriegskind, das den zwei vorherigen Kriegsgenerationen entsprossen ist, habe ich viel mehr „Altlasten“ zu tragen, als es mir vorher je bewusst gewesen ist.
Ich weiß, dass ich selbst die Verantwortung für mein Leben übernehmen muss. Ich kann nicht die vorherige Generation dafür verantwortlich machen. Mir geht es darum, die Verletzungen, die verunsichernden Erfahrungen in meiner Kindheit, meine früh erlernten Verhaltensmuster aufzudecken und mein Erleben ihnen gegenüber zu verändern. So kann ich die lange Familienkette der Verdrängungen und die Weitergabe an meine Kinder und Enkel durchbrechen.
ewige spuren
wind weht über
gegenwart
vergangenes
deckt sich auf
krieg