Bei schönem Wetter saßen zum Frühstück und zum Vesper neben dem Eingang zum Verkaufsstand oft Arbeiter, die dort ihre Brote verzehrten, Zeitung lasen oder rauchten. Da wir zum Frühstück nicht in den Speisesaal gingen, konnten wir die Leute sehen, wenn wir uns die Hälse verrenkten oder auf die linke Werkbank kletterten. War Meister Sturm nicht im Raum, wurde schnell einmal eine Lehmkugel an eine Zeitung geschossen, was dort verwundert zur Kenntnis genommen wurde. Aber nicht immer wurde nur eine Zeitung getroffen. Man konnte uns kaum ausmachen von unserem Platz aus. Ich habe nicht geschossen. Gemeckert habe ich aber auch nicht, obwohl ich das Beschießen der Leute für gemein hielt.
In Ermanglung von Lehm haben wir uns aus Schaftholz kleine Bolzen gefeilt. Solche Bolzen benötigten wir, um zu überprüfen, ob das Schlagbolzenloch genau genug in der Laufmitte sitzt. So einen Bolzen mit der kurzen Reißnadelspitze zu verschießen war nicht ungefährlich, konnte man den Beschossenen doch erheblich verletzen. Die Reißnadelspitze ragte etwa zwei bis drei Millimeter auf der einen Seite des Bolzens heraus.
Zum Mittagessen gingen wir in den großen Betriebsspeisesaal. Der Weg dorthin war weiter, als von der Lehrwerkstatt I und II. Wir Lehrlinge hatten einen Tisch für uns. Das Essen wurde nach der schlechten Ernte von 1941 bedeutend karger. Es gab oft Krautsuppe aus Sauerkraut. Einmal, wir hatten gerade begonnen mit dem Essen, da sprang auf der anderen Seite des Saales eine ganze Gruppe auf und verließ den Speisesaal. Erst später erfuhren wir, dass einer an diesem Tisch einen Damenstrumpfhalter in der Suppe gefunden hatte.
Werkstattwechsel
Es war etwa Mitte Februar 1942, da wurde ein neuer Werkstattwechsel vollzogen. Es ging zurück in die Lehrwerkstatt I. Wir unterstanden wieder Meister Dietz, den wir nicht leiden konnten. Unsere Ausbildung vollzog sich immer noch an Doppelflinten und es war kein Ende abzusehen. Wir fingen an zu meutern. Vorerst nur untereinander. Mein Arbeitsplatz war wieder der, den ich zum Ausgang des 1. Lehrjahres hatte. Nun aber mit einem anderen, einem Flaschen- oder Zangenschraubstock. Wir mussten uns wieder das „Geknärre“ von Meister Dietz anhören, wenn er die Lehrlinge des ersten Lehrjahres bejammerte. Wir waren ja nun schon im 3. Lehrjahr.
Erinnern kann mich ich in dieser Zeit noch an den Besuch eines ehemaligen Lehrlings, der in SS-Uniform auftrat. Er hatte sich nach der Lehre gleich zur Waffen-SS gemeldet. Seine militärische Grundausbildung hatte er hinter sich. Als er zu Meister Sturm ging, sammelten wir uns nach und nach neugierig dazu. Die Waffen-SS war ja eine besondere Truppe, zu der man uns auch warb. So kamen wir nun zu der sich beginnenden Unterhaltung zwischen Sturm und ihm, dem SS-Mann hinzu. Sturm wollte nun wissen, wie es da bei der SS zugeht. Er erzählte uns, wie straff der Dienst dort sei, was einem Gustloff-Lehrling nicht all zu schwer fiel, weil ja im Betrieb auch militärische Disziplin herrsche. Sturm hörte sich das an und meinte, dass sein Bericht zu allgemein wäre. Er möchte etwas mehr wissen. Der SS-Mann druckste nun herum und Sturm munterte ihn noch einige Male auf. Sturm wollte etwas besonderes wissen, etwas, was man sonst nicht erfährt. So begann der SS-Mann zu erzählen, was ich bis heute nicht vergessen kann. Er erzählte, dass er mit seinem Zug, also etwa dreißig Mann, zu einer größeren Fabrik in Polen mit dem LKW gefahren sei. Während die SS-Männer, jeder bewaffnet mit einer Maschinenpistole, auf dem LKW sitzend warteten, wäre eine größere Gruppe Menschen unter Bewachung gekommen, die man in die Fabrik und gleich vorn auf den großen Hof führte. Nach dem die Menschengruppe – es wären mindestens fünfzig oder mehr Leute gewesen – im Hof war, mussten die SS-Männer absitzen. In den Hof geführt, wo die Leute vor einer großen Mauer standen, mussten die SS-Männer auf Befehl ihre Magazine der Maschinenpistolen auf die Menschengruppe hin leerschiessen. Es hätte sich keiner mehr von denen gerührt. Anschließend wären die SS-Männer wieder aufgesessen und davongefahren worden. Sturm fragte nach, was das für Leute gewesen wären, auf die man geschossen hätte. Der SS-Mann wusste das nicht, „wahrscheinlich Juden“, sagte er.
Schulterzuckend gingen wir an unsere Plätze zurück. – Es waren doch nur Juden. Das war ja nicht schlimm. Die Juden sind ja unser Unglück, hatte man uns eingetrichtert. Wenn ich daran denke, wie kalt wir das hingenommen haben, muss ich mich schämen. Wir gingen an unsere Plätze und arbeiteten weiter. Gemault haben wir also nur, weil wir weiter Doppelflinten machen mussten und drohten – unter uns natürlich nur –, den Lehrvertrag zu kündigen.
Diese Meinung, die Unzufriedenheit mit unserer Ausbildung und das Verhalten von Meister Sturm, der priemte und seinen Priem in Toilettenpapier spuckte, über seine Lesebrille nach links und rechts blickte und wenn er die Luft nach seiner Ansicht rein war, das zusammen geknüllte Papier unter seinem Stehpult verschwinden ließ, was nach und nach anfing zu stinken – diese Unzufriedenheit teilte ich meinem Logiewirt, dem Herrn Bart, mit. Der war ja Parteigenosse und da war für ihn das Lästern über einen nationalsozialistischen Musterbetrieb nicht tragbar. Was ich nicht vermutete, war, dass Herr Bart sich nun einmischte.
Am Nachmittag des 13. April 1942 wurde ich zu Obermeister Ledermann gerufen. Als ich in das Zimmer des Obermeisters trat, bemerkte ich auch Herrn Bart. Der Obermeister sagte, dass der Parteigenosse Bart ihm berichtet hätte, … – eben das, was ich gerade erzählt habe. – Ich sollte das vorm Obermeister wiederholen. Das tat ich und drohte, bei keiner Veränderung den Lehrvertrag zu kündigen. Nun versuchte der Obermeister mich zu beschwichtigen und versuchte mich hinzuhalten. Da ich nicht darauf einging, bestand er nun darauf, in die Werkstatt zu den anderen Systemmacherlehrlingen zu gehen und diese nach ihrer Meinung zu fragen.
Wir gingen also gemeinsam in die Lehrwerkstatt. Dort wurden alle meine Kollegen vorn am Meisterkäfterle mit Meister Sturm und Meister Dietz zusammengerufen. Der Obermeister trug vor, was ich gesagt habe und dass ich vorgetragen hätte, dass alle dieser Meinung wären und sie sollten das bestätigen. Keiner sagte etwas dazu und ich war der Blamierte. „Nun“, fragte der Obermeister hönisch, „es ist also doch nicht so, wie du behauptest. Keiner hat dazu etwas zu sagen. Was ist nun?“
Mich packte die Wut. Herr Bart blickte mich auch fragend an. Ich sagte: „Bei dem was ich gesagt habe, bleibe ich und ich würde es auch wiederholen. Wenn meine Kameraden zu feige sind, ihre Meinung zu sagen, die sie Tag für Tag hier kund getan haben, so ist das ihre Sache. Ich bleibe bei meiner Aussage und meiner Forderung. Man könnte ja auch einmal unter dem Stehpult bei uns nachsehen.“ – Man blickte sich ratlos an. Ich musste vorn an der Tür stehen bleiben. Man ließ mich nicht einmal meine Werkbank abräumen.
Nach einiger Zeit erhielt Meister Dietz vom Obermeister einen Anruf und Dietz gab mir Bescheid, dass der Obermeister eine Überweisung in die Abteilung „Jagd“ eingeleitet hätte. Ich hätte meine Wege dafür zu erledigen. Ich erledigte meine Wege. Die Ummeldungen ging schnell. Als ich mich wieder am Werkstatteingang postieren wollte, bekam ich von Meister Dietz schon die Anweisung, mich in der Abteilung „Jagd“ bei Meister Gerbig zu melden. Während ich nun mit dem Lehrausbilder vom Dienst verhandelte, meine Brotbüchse aus dem Rollschrank herauszugeben und mit mir nach unten in den Umkleideraum zu gehen, damit ich meine Sachen holen könne, zerrte man unter besagtem Stehpult mit Stangen das mit Priem versehene Toilettenpapier hervor. Meister Dietz stand dabei. Er hatte wohl in dem Anruf vom Obermeister auch die Anweisung erhalten, meine Behauptung zu überprüfen. Ich machte bei Dietz mein Männchen und meldete mich ab, nicht ohne auf den Papierhaufen zu blicken. Das tat ich ganz unbewusst. Dietz dachte aber, ich schaue aus Frechheit nach diesem Haufen. Ich ließ ihn meckern und drehte mich zackig ab.
Mit meinen Sachen über dem Arm ging ich durch den Betrieb und versuchte nun, den neuen Lehrausbilder vom Dienst auszumachen. Der blaffte mich gleich an, als ich ihn gefunden hatte. Morgens vor Arbeitsbeginn ließ er uns in dem geräumigen Umkleideraum in Linie zu einem Glied antreten und nach Feierabend auch. Er war gegenüber den Lehrlingen immer mürrisch und fühlte sich scheinbar als großer Boss. Bei jeder Gelegenheit schnauzte er mit uns herum. Nun kam ich und wollte außer der Reihe in den Umkleide- und Waschraum. Das war unerhört und dazu noch am späten Nachmittag. Ich ließ ihn schimpfen und sah zu, dass ich zu Meister Gerbig kam.
Meister Gerbig führte mich in der Werkstatt nach hinten in die Ecke zu einem Arbeiter, den er als Herrn Hoffmann vorstellte. Während Gerbig den Raum verließ, meinte Hoffmann, dass ich nun erst einen Zangenschraubstock