Unser Weg zum Betrieb wurde nun bequemer. Wir fuhren ein Stück mit dem Zug. Zum Bahnhof hatten wir es höchstens zwei Minuten. Dazu konnten wir durch eine schmale Pforte hinten zum Hof heraus über einen Pfad, der zum Bahnhof führte. Wir besorgten uns eine Monatskarte, die damals um die vier Reichsmark kostete.
Unser Weg führte über einen Holzplatz, auf dem Stämme auf Waggons verladen wurden. Doch zu der Zeit, als wir den Weg entlang gingen, wurde dort nicht gearbeitet. In Richtung Suhl fuhren damals vor Arbeitsbeginn drei Züge. Herr Bart fuhr mit dem ersten, da er etwas früher begann, weil er auch etwas früher heim fuhr. Ob es wegen der Gemeindekasse war oder weil er halber Bauer war, weiß ich nicht. Wir, Höfert und ich, fuhren mit dem zweiten Zug, da wir mit diesem rechtzeitig zum Betrieb kamen. Der dritte war erst viertel vor sieben auf dem Bahnhof Heinrichs. Da schaffte man es nur rechtzeitig in der Werkstatt zu sein, wenn man im Bereich der Berufsausbildung arbeitete. Aber ich war ja nun fast am oberen Teil des Betriebsgeländes, wo man zum Haupttor hinein musste.
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Der Lehrjahreswechsel zog auch Veränderungen in der Berufsschule nach sich. Waren wir vorher mit verschiedenen Berufen in einer Klasse und über dreißig Schüler je Klasse, zählten wir nun nur noch 14 Schüler und waren berufsspezifisch zusammengefasst. In dieser Klasse lernten wir Systemmacher, ein Schäfter, ein Rohrmacher und ein oder zwei Sitzenbleiber. Der erste Schultag in dieser Klasse hat uns die Richtung gezeigt. Ein Lehrer kam zum Unterrichtsbeginn in den Klassenraum und wir räkelten uns so nach und nach aus den Bänken. Eine kurze Begrüßung und wir durften uns wieder setzen. Nun begann der Lehrer:
„Meine Herren, mein Name ist Meldke und ich bin Ihr Klassenlehrer. Dass wir uns gut verstehen: Schwatzen – gibt es nicht. Verschreiben – gibt es nicht und einen Klecks machen – überhaupt nicht. Wenn einer aufgerufen wird, hat er sich schnell zu erheben und hat gerade neben seinem Stuhl zu stehen. So, wie Sie sich eben von den Plätzen erhoben haben, möchte ich es nicht noch einmal erleben.“
Meldke sagte alles so bestimmt, dass wir uns alle duckten. Wir bemerkten, dass er an seinem linken Arm einen Schaden hatte. Er führte ihn etwas steif und der Ellenbogen war scheinbar nicht mehr voll funktionsfähig. Wenn der Arm herunterhing, war er nie ganz gerade und die Handfläche zeigte dabei immer nach hinten.
Nun mussten wir uns vorstellen. Das ging alles ganz schnell. Danach drehte Meldke sich um und schrieb wahllos Zahlen an die Tafel. Die Zahlen ergaben zuletzt einen großen Kasten ohne Rahmen. Er ergriff den Zeigestock und tippte auf eine Zahl. Mit dem beschädigten Arm zeigte er auf einen von uns, der sich schnell wie gewünscht erhob und sagte entweder „Plus“, „Minus“, „Mal“ oder „Geteilt durch“ und tippte dann auf eine andere Zahl. So ging das bis zum Ende der Unterrichtsstunde. Meldke hatte uns im Griff.
In diesem Jahr, als ich bei Meldke war, habe ich mich sehr verändert. Gute Sachen lobte er und schlechte kritisierte er scharf. Bei der Kritik zeigte er den Weg, wie man das Ziel erreichen könnte. Durch die geringe Schülerzahl konnte sich Meldke intensiver mit dem einzelnen von uns befassen. Das war gut so.
Im September 1941 organisierte er eine zweitägige Schulfahrt nach Sonneberg und Lichtenfels, bei der wir in Coburg in einer Jugendherberge übernachteten. An diese Schulfahrt erinnere ich mich immer gern. Am 1. September ging es los. Ich brauchte am Morgen in Dietzhausen nur in einen Zug in Richtung Grimmenthal zu steigen, während der überwiegende Teil unserer Reisegruppe schon in Suhl eingestiegen war. Wir restlichen kamen in Grimmenthal dazu, wo wir in einen Zug in Richtung Eisfeld umzusteigen hatten. Von Eisfeld ging es dann nach Sonneberg, wo wir das Spielzeugmuseum besuchten. Nun, Spielzeuge waren nicht gerade nach unserem Sinn, jedoch die Führung haben wir zum größten Teil mitgemacht. Im unteren Teil des Gebäudes war ein Heimatmuseum angegliedert. Dieses Heimatmuseum interessierte uns mehr. Dort waren einige Spazierstöcke ausgestellt und Erhard Horch aus Meiningen schlug vor, diese Stöcke auf Wilderergewehre zu untersuchen. Verbotenerweise taten wir das und hatten Erfolg. Wir fanden zwei Gewehre, die als Spazierstöcke getarnt waren. Das erzählten wir dann der Frau, die die Führung veranstaltete hatte. Wir taten so, als hätten wir das ohne anzufassen bemerkt.
Von Sonneberg fuhren wir mit dem Zug Richtung Coburg. In Oelze stiegen wir aus und zu Fuß ging es weiter. Nach etwa vier Kilometern erklommen wir die Höhe zur Veste Coburg. Dort nahmen wir ebenfalls an einer Führung teil, an der wir allgemein wenig Interesse fanden. Von der Veste ging es zur Jugendherberge, in der wir bald unsere Betten aufsuchten, denn es sollte sehr früh mit dem Zug weitergehen.
Das vorgesehene Laufpensum des Folgetages kannten wir noch nicht. Wir fuhren am nächsten Morgen von Coburg mit dem Zug nach Lichtenfels. Von Lichtenfels aus liefen wir am Main entlang bis unter Schloss Banz. Dort gab es eine kleine Fähre, die uns in zwei Fahrten übersetzte, sodass wir den Berg hoch zum Schloss Banz erklimmen konnten. Auf dem Schloss gab es ebenfalls ein Museum, bei dem ich mich nur noch an das Gerippe eines Dinosauriers und ein ausgestopftes Krokodil erinnere. Das Krokodil hatte der Schlossherr bei einer Safari in Afrika erlegt.
Das alles interessierte uns nicht so recht und endlich setzten Friedel Fiege aus Heiligenstadt und ich uns ab. Uns schloss sich Hans Syndermann an. Fiege, in der Kirchenbegehung wohl kundig, lotste uns in die Kirche, in der er bald den Eingang fand, um zum Turm zu gelangen. Wir gerieten aber erst einmal seitlich auf die Decke des Kirchenschiffs. Über uns war der Dachstuhl mit seiner Bedeckung. Von unserem Standort sahen wir die Aussparungen, durch die es zu den zwei Türmen ging. Auch Glocken waren zu sehen. Wir tasteten uns vorsichtig zu der uns nächsten Turmaussparung vor, bis wir in den Turm hineinsehen konnten. Die dort angebrachten Leitern verleiteten Fiege und mich zum Hochklettern. Syndermann blieb unten. Die Leitern gingen jedoch nicht bis zur höchsten Stelle. So kletterten wir auf den Balken weiter bis in die Zwiebel. Dort befanden sich einige Fenster. Um nicht herunterzufallen, stützten wir uns auf den mit Brettern ausgeschlagenen Zwiebelwänden mit den Schultern und gestreckten Beinen ab. Da die Öffnung nach unten nicht zu groß war, konnten wir uns mit etwas Geschick den Fenstern zuwenden, durch die wir hinaus schauen wollten. So konnten wir die ganze Gegend gut betrachten. Wir befanden uns auf dem Turm, der nach der Mainseite liegt. Von da aus konnten wir auch in den Hof des Klosters blicken.
Während wir an unseren Abstieg dachten, schlug Syndermenn unverhofft mit einem Stein an eine der Glocken. Kurz darauf ging es auf dem Klosterhof lebhaft zu. Die Kittelmänner liefen aufgeregt in mehrere Richtungen. Wir schimpften auf Syndermann und der machte sich schnell aus dem Staube. Fiege und ich hockten noch auf dem Turm. Als sich die Aufregung auf dem Klosterhof gelegt hatte, stiegen wir schnell ab. Doch als wir zur Tür kamen, von der es ins Kirchenschiff ging, fanden wir sie verschlossen vor. Irgendwoher hatte Fiege etwas Draht oder einen Nagel gefunden, womit er die Tür öffnen konnte und wir rannten hinaus.
Dass unsere Meute schon beim Abmarsch war, hatten wir vom Turm aus bereits bemerkt. Im Laufschritt liefen wir auf der Straße den Berg hinunter. Noch bevor unsere Klasse die Mainbrücke überquerte, holten wir sie ein. Es ging nach Staffelstein. Dort kehrten wir in einer Gaststätte ein und bei einer Limonade verzehrten wir unsere Brote. Gern hätten wir ein Bayrisches Bier gekostet, doch das durfte nur Meister Sturm. Meldke trank ebenfalls Limonade.
Von Staffelstein aus ging es zum Staffelberg. Da konnten wir unsere Kletterlust befriedigen. Ich ging dann allein auf Entdeckungsreise und fand einen Pfad, der etwa in Wipfelhöhe der Bäumen unter den Felsen entlang verlief. Die Felsen sind dort wie Türme aneinander gereiht. Zwischen zwei solchen Felsentürmen entdeckte ich eine Stelle, an der ich hochklettern wollte. Vom Pfad aus kam ich auf eine größere schräge Platte, auf der ich mich bäuchlings hochrutschend auf eine Felsspalte zu bewegte, von der ich auf die obere Wiese des Berges zu gelangen dachte. Als ich auf der Mitte der Platte angelangt war, warfen doch ein paar Mitschüler Steine in die Felsspalte. Zum Glück sprangen die Steine über meinen Kopf und seitlich vorbei. Ich schrie natürlich vor Angst. Wäre ich ohnmächtig von der Platte gerutscht, wäre ich in die Tiefe gestürzt, denn nach dem Pfad gab es keine Stelle, an der ich aufgehalten worden wäre.
Als ich oben