Der Lehrausbilder Peschke, der von der dritten oder vierten Gruppe der zweite Ausbilder war, hatte sich einen Lehrling aus Sachsen vorgenommen, der uns die Sächsische Lorelei vorsingen sollte. Heinze, so hieß dieser Lehrling, war erst kurze Zeit bei uns. Er stammte aus Löbau, wo seine Familie ein Waffengeschäft führte. Lehrjahresmäßig gehörte er eigentlich ins zweite Lehrjahr, doch das hätte er nicht durchgestanden. Er war schon über eineinhalbe Jahre bei einem Büchsenmacher in Sachsen in der Lehre, bei dem er einen Schraubstock nur zum Putzen kennen gelernt hatte. Seine übrige Tätigkeit bestand aus Straße kehren, Wohnung säubern, Einkaufen für die Meisterin und alles was in einem Haushalt noch so zu erledigen war. Sogar beim Waschen der Wäsche musste er jedes Mal helfen. Heinze hatte nun viel nachzuholen, wenn er mit uns gleichziehen wollte. Er besaß den festen Willen dazu und erklärte uns, wie gut doch unsere Ausbildung sei.
Ehrhard, so hieß er mit Vornamen, musste nun einen Tag vor dem Kameradschaftsabend mit Peschke die Sächsische Lorelei lernen, obwohl er nicht singen konnte, wie er immer wieder betonte. Das stimmte nicht ganz. Er hatte nur eine dunkle und kratzige Stimme. So trug er dann auch das Lied vor. Auch ohne so einen Vortrag war Erhard Heinze schon sehr nervös. Wo er auch seinen Blick hinwendete, drehte sich sein Kopf alle drei bis vier Sekunden leicht hin und her. Doch Heinze stand das Lied durch und ich kann es heute noch.
Werkstattheft von Horst Riemenschneider aus dem 1. Lehrjahr 1940
Wieder im Betrieb und im Heim
Nach dem Schulungslager arbeitete ich noch einige Tage an dem Schraubstock, an dem ich seit dem ersten Arbeitstag stand und verschiedene Arbeitstechniken erlernte. Ende September erfolgte nun die Zuordnung zu den Berufen.
Ich war noch unter „Technischer Zeichner“ geführt worden und musste langsam alle Hebel in Bewegung setzen, dem nun neu von mir angepeilten Beruf zugeordnet zu werden. Als neuen Beruf hatte ich mir Büchsenmacher ausgewählt. Inzwischen gab es aber die Information, dass keine Büchsenmacher im Betrieb mehr in die Ausbildung kommen, sondern nur noch Systemmacher. Wer Büchsenmacher werden wolle, müsse daran anschließend zur neu gegründeten Reichsbüchsenmacherschule in Suhl gehen. Dort würde man ein halbes Jahr zusätzlich lernen müssen, wobei vormittags Schulunterricht sei und nachmittags in einer Büchsenmacherwerkstatt ein viertel Jahr das Schäften und dann ein viertel Jahr die Fernrohrmontage zu erlernen seien. Ich wurde also in die Systemmachergruppe eingereiht, die nun in einer Reihe an der Fensterfront in Richtung des Sportplatzes versetzt wurde. Ebenso auch die Werkzeugmacher und Maschinenbauer, die dann auf der Bahnhofseite zwei große Gruppen bildeten. Die anderen Lehrberufe kamen teilweise schon in den Betrieb oder in die Lehrwerkstatt II, die unter uns lag. Dort landeten auch die Frankenhainer, die „Anlerndreher“ in ihren Ausbildungsverträgen stehen hatten. Die Lehrwerkstatt II war voller Maschinen. Unter dem Speisesaal war die große Werkzeugausgabe, in die jeder eine Woche lang zum Kennenlernen eingesetzt wurde, so auch ich.
Mit dem Wechsel in die Systemmachergruppe wurde mir dringlichst geraten, die Unterschrift meines Vaters wegen des Berufswechsels beizubringen. Das hoffte ich im Weihnachtsurlaub zu erledigen. Aber bis dahin war noch etwas Zeit. Weihnachten würde mein Vater vom Kriegmachen Urlaub erhalten. Schließlich hatte er mit seiner Ehefrau bis dahin schon sechs Kinder.
Alle Gruppen mussten sich zunächst mit der Herstellung eines Hammers befassen. Als der fertig war, kam noch ein zweiter dran. War der erste nur 300 Gramm im Gewicht, wurde der zweite als 500 Gramm-Hammer hergestellt. Dazwischen wurde ich in der Werkzeugausgabe in der Lehrwerkstatt I eingesetzt.
Noch in der ersten Oktoberhälfte begannen wir, Hilfswerkzeuge für Systemmacher herzustellen, die wir später auch selbst benutzen sollten. Ein wichtiges Werkzeug für den Systemmacher/Büchsenmacher ist der Schraubenzieher. Man sagt heute Schraubendreher dazu, was der Funktion dieses Werkzeugs näher kommt. Neben dem Schraubendreher wurde ein Meißel für bestimmte Arbeiten oder Formgebungen bei diesem Beruf benötigt. Man hielt es damals für erforderlich, das Herstellen dieser Werkzeuge in die Ausbildung einzubeziehen, was bei entsprechend eingerichteten Werkstätten relativ schnell geschehen konnte. Unsere Lehrwerkstatt war dazu bestens gerüstet. Ein sogenannter Muffelofen, ein Amboss und auch ein Bunsenbrenner waren vorhanden. In einem Gasofen brachte man den Stahl zum Glühen, sodass man ihn schmieden oder härten konnte. Wir erlernten auf diese Weise einige einfache Schmiede- und Härtearbeiten. Dabei erhielt ich meine erste Maulschelle vom Lehrausbilder.
Einen Schraubendreher oder Meißel zu schmieden und zu härten erfolgte bei uns in mehreren Schritten. Während ein Schmied nach dem Schmieden das Härten und Anlassen in einem Schritt erledigt, mussten wir das Werkstück vor dem Anlassen erst vollständig abkühlen lassen. Danach wurde das Werkstück an der anzulassenden Stelle mit Schmirgelleinwand blank gerieben und am Bunsenbrenner erwärmt, bis die Anlassfarbe erschien. Die Anlassfarben sind je nach Temperatur unterschiedlich. Sie beginnen mit gelb bei etwa 220 Grad Celsius und verfärben sich mit steigender Temperatur über strohgelb zu violett, wenn etwa 300 Grad erreicht werden bis blau, was bei 500 bis 550 Grad liegt. Ein Meißel wird auf strohgelb und ein Schraubendreher auf etwas mehr als violett angelassen. Den Schraubendreher soll man gerade wieder mit der Feile bearbeiten können, während ein Meißel dann nicht mehr stehen würde. Das Anlassen muss aber sein, weil sonst der Stahl zu spröde wird und wie Glas bricht.
Ich ging also mit meinem abgeriebenen Schraubendreher zum Bunsenbrenner und ehe ich mich versah, war er blau-grau, also um 600 Grad und so nicht verwendungsfähig. Erneutes Härten und Abschmirgeln war nötig. Beim zweiten Versuch ging es wieder daneben mit dem Anlassen. Beim dritten danebengegangenen Anlassversuch machte es dann klatsch und mir brannte die linke Wange. Der Lehrausbilder hatte mir eine gefeuert. Beim vierten Versuch brauchte ich lange, bis sich die Anlassfarbe erblicken ließ. Ich packte es aber. Endlich konnte ich das ins blaue gehende Violett vorzeigen.
Bei der Herstellung weiterer Hilfswerkzeuge für Systemmacher musste nun noch genauer gefeilt werden. Die Zehntel Millimeter bei einer Schieblehre waren für die Nachtreibkeile zum Schienen und den Verschlusskeilschlitz nicht mehr ausreichend genau. Wir mussten die 0,02 Millimeter Minustoleranz mit der Messschraube, auch Mikrometer genannt, feststellen. Darunter war es Ausschuss und darüber höchstens 0,0. Minus 0,005 Millimeter, ein halber Teilstrich, war das Ideale. Es machte aber Spaß, festzustellen, dass man das konnte.
Nach den Werkzeugen gingen wir dazu über Spannereiteile herzustellen, bestehend aus Hahn, Spannhebel und Stange. Nun wurde eine 130 mal 70 Millimeter große Platte hergerichtet, die von vier Millimeter Stärke auf 3,5 Millimeter blank gefeilt wurde. Dazu kam noch ein für uns damals eigenartiger Winkel und ein als Bock bezeichnetes Teil. Der Winkel wurde auf die Platte montiert, auf der gleichzeitig das Reiben mit einer Reibahle erlernt wurde. Der Bock erhielt auch seinen Platz auf der Platte und wir erkannten bald, dass der Winkel die zu einem Gewehrlauf sitzende Front eines Kastens darstellen sollte. Der Kasten ist der Teil bei einem Kipplaufgewehr, in dem die Spannerei, der Verschluss, die Abzugsvorrichtung mit Sicherung und der Schaft angebracht sind. Die Herstellung solcher Kipplaufgewehre, die man zur Jagd benutzt, sollten wir erlernen und ich wollte das. Endlich hatte ich ein Berufsziel, bei dem ich mir auch eine Perspektive ausmalte. Die Meisterprüfung war damit schon eine ausgemachte Sache für mich.
Im Heim mussten wir am Morgen keinen Stubendienst mehr machen, dazu hatte man inzwischen zwei Belgier angestellt, die man verpflichtet hatte, in Deutschland zu arbeiten. Kriegsgefangene waren es nicht, denn sie trugen keine Uniform. Nachdem man Westeuropa besetzt hatte, wurden im Betrieb auch Kriegsgefangene zur Arbeit eingesetzt. Gesehen habe ich zum Beispiel Franzosen.
Zur Heimleitung war ein neuer Mann gekommen, ein Österreicher, den wir Steffel nannten. Man merkte, dass er mehr durchgehen ließ als Haider. War Haider nicht anwesend, wurde es beim Essen im Speisesaal laut. Steffel schloss fast jeden Tag das obere Tor auf, sodass wir den kürzeren Weg zum Betrieb gehen konnten. Ich schätzte ihn auf 55 bis 60 Jahre. Er war nicht die einzige neue Person. In der Heimküche wurde ein Mädchen eingestellt. Sie hieß Käthe Schweigert und war aus Mäbendorf, einem Ort, der etwa einen halben Kilometer Richtung Dietzhausen lag. Sie war