Prolog
Ein Teil des felsigen Bodens war eingesackt und bildete einen tiefen Krater. Dort musste das Zentrum der Verwüstung sein. Sicher waren Leute eingeschlossen. Er hastete über die steile Holztreppe des Hauptstollens hinunter, um jenen zu helfen, die es nicht mehr aus eigener Kraft ins Freie schafften – in solchen Momenten zählte jede Sekunde.
Immer wieder drückten ihn andere, die panisch aus den Gängen stürzten, grob zur Seite. Bei einer Katastrophe schaut jeder nur auf sich selbst, dachte er bitter.
In der tieferen Etage der Grube bemerkte er einen süßlich scharfen Geruch. Er erinnerte ihn kurz an etwas, aber er beachtete ihn nicht weiter, da aus dem Dunkel wieder ein dumpfes Dröhnen kam. Der Boden unter den Füßen begann durch die schwere Erschütterung zu beben.
Carlos taumelte, konnte kaum mehr stehen, lehnte sich keuchend gegen die Wand und suchte etwas Halt an einem Felsvorsprung. Er schloss die Augen, wartete ab, bis es wieder still wurde und versuchte, einigermaßen ruhig zu atmen. Nur jetzt nicht die Nerven verlieren.
Nach einem Augenblick schierer Angst zwang er sich weiterzugehen, doch hinter einer Biegung war der Weg zu Ende. Der Gang war eingestürzt, zur Gänze von herabgefallenen Brocken verschüttet. Carlos musste zurück zur letzten Abzweigung, dort gab es einen kleinen Platz, wo mehrere Stollen zusammenliefen. Er hoffte, dass trotz der letzten Entladung der Rückweg noch passierbar sei, als er wieder in die Gegenrichtung rannte. In dem dichten Staub, der in der Luft hing, sah man alles nur wie hinter einem Schleier. Die Grubenlampen, die in den Biegungen flackerten, warfen gespenstische Schatten – aber zumindest brannten einige davon noch. So konnte er sich mühsam in dem Gewirr von Gängen orientieren und nahm bei Abzweigungen immer den breiteren – dort würde es noch Sinn machen, nach jemanden zu suchen, der Hilfe brauchte. In den engen verwinkelten Schächten gab es nirgends Stützhölzer, deshalb hielten die Decken nicht stand. Sie brachen und begruben erbarmungslos alles unter sich.
Ein unterdrücktes Gurgeln ließ Carlos langsamer werden. Atemlos blieb er stehen und sah sich um. Es klang wie ein undeutliches Rufen, das hinter einem Haufen Schutt hervorkam. Er räumte mit den Händen die losen Stücke weg und stemmte sich dann mit den Füßen gegen einen größeren Felsbrocken, bis dieser zur Seite kippte und den Einlass in einen niederen Durchbruch freigab. Dahinter lag ein enger Querschlag, nur wenige Meter tief, vermutlich erst vor Tagen angelegt.
Carlos blickte in ein Augenpaar, das ihn leblos anstarrte. Ein Mann lag bis zur Brust unter Felsstücken, eine verdrehte Hand und sein Kopf mit einer klaffenden Wunde ragten heraus. Zwischen den verklebten Haaren sickerte Blut in die Ritzen zwischen den Steinen am Boden. Ein Teil seines weißen Plastikhelms mit der halben Aufschrift der Mining Company, die hier Zinn abbaute, steckte in den Trümmern. Der Aufprall musste so heftig gewesen sein, dass es ihn einfach in Teile zerrissen hatte.
Ein älterer Arbeiter kniete vor der Leiche, hieb mit den Fäusten auf die Brust des Toten und rief einen Namen. Durch die Anstrengung hustete er, rang nach Luft, zog aber mit jedem Atemzug nur mehr von dem beißenden Rauch in seine Lungen. Achtlos wischte er mit dem Handrücken über seine aufgesprungenen Lippen, versuchte wieder den Namen zu schreien, doch es blieb bei einem kratzenden Würgen und einem weiteren quälenden Aufhusten.
Carlos duckte sich in den niederen Gang hinein, presste ein Taschentuch vor seinen Mund. Eine Seitenwand war noch intakt, an der schob er sich halb kriechend in den engen Spalt bis zu den beiden hin. Er erwischte den Knienden an der Jacke, wollte sich bemerkbar machen, doch der nahm ihn in seinem Schock überhaupt nicht wahr. Er versuchte verzweifelt, seinen toten Kumpel unter dem Geröll hervorzuziehen und redete ihm zu, doch wieder aufzustehen.
Carlos fasste den Mann hart am Arm, er musste ihn von da wegbekommen, jederzeit konnten die Reste der Wand nachgeben. Er riss ihn zu sich hoch, schüttelte ihn und brüllte ihn an. Endlich reagierte der andere, drehte langsam den Kopf und richtete sich taumelnd auf. An der Bewegung war zu erkennen, dass er langsam wieder klar wurde. Sein Gesicht war durch den ganzen aufgewirbelten Dreck mit einer grauen Schicht überzogen, so als würde er eine Maske tragen. Seine Lippen waren von dem Sturz aufgeplatzt und das trocknende Blut zog eine schmierige Spur wie ein groteskes Grinsen.
Carlos bückte sich, drückte dem Toten die Augen zu und zog dann den widerstrebenden Alten, der unverständliche Worte hustend aus sich herausstieß und den Blick nicht von seinem Kumpel lassen konnte, mit sich in den Hauptgang.
»Sie können nichts mehr für ihn tun«, schrie er ihn an. »Er ist tot! Aber Sie leben, also kommen Sie, wer weiß, wie lange der Schacht noch hält!«
Der Mann nickte stumm, riss sich von dem Anblick los. Er begann zu schluchzen, humpelte aber hinter Carlos her. Der suchte verzweifelt den Gang, über den er gekommen war. Jetzt, da sie in der anderen Richtung liefen und in der Staubwolke, die überall aus den Gängen quoll, sah alles anders aus. Immer wieder mussten sie über umgestürzte Maschinen klettern oder sich, wo das Licht ausgefallen war, an den Wänden entlang weitertasten. Sie fanden noch einen weiteren Mann, der verletzt am Boden saß, stützten ihn zu beiden Seiten und nahmen ihn mit sich.
Carlos hatte keinen trockenen Faden mehr am Leib, die Luft unter Tag war drückend und stickig. Endlich kamen sie zu dem Platz, in den mehrere Tunnel einmündeten. Ihnen bot sich ein grauenhaftes Bild. Die Decke hatte sich gesenkt und eine Seite hatte ganz nachgegeben. In den Trümmern lagen Leichenteile, zerschmetterte Körper, blutige Kleidungsstücke.
Carols ekelte es furchtbar und er musste sich sehr zusammennehmen, um sich nicht übergeben zu müssen.
»Cuidado con la cabeza!«, rief der Alte – Passt auf, dass ihr euch nicht die Köpfe stoßt! Er leuchtete nach hinten und trieb die beiden an.
Es konnten nur mehr wenige Biegungen bis zur Haupttreppe sein, doch in diesem Teil war das Grubenlicht ganz ausgefallen und man konnte trotz der Taschenlampe die Hand nicht vor den Augen sehen. Keiner wusste so genau, welche Richtung sie einschlagen sollten. Es rieselte unablässig von der Decke, immer wieder gab der Fels Geräusche von sich, so als würde der Rest des Berges in die Stollen herunterstürzen.
Zwei Männer kamen durch einen Nebengang aus der Nähe des Kraters. Die Verwüstungen mussten dort am stärksten sein, das konnte man sogar im Halbdunkel erkennen. Sie tappten durch die Finsternis, versuchten nach draußen zu finden und verständigten sich durch Zurufe, froh auf jemanden zu treffen – als Gruppe erträgt man die Angst leichter.
»Wir müssen da lang«, sagte einer von ihnen, »dann den zweiten Gang links.«
Er trug einen andersfarbigen Helm, musste also ein Vorarbeiter sein, und kannte die Stollen und Gänge der Grube. Sie atmeten erleichtert auf – wenigstens einer wusste