Was jetzt in Russland läuft, trägt Züge eines Gegenstaatsstreichs, ist aber auch eine Revolution, wie ich sie nie verschlungener und zweideutiger gesehen habe. Falls sie sich nicht positiv beschäftigt, und zwar umgehend, droht die vom Notstandskomitee an die Wand gemalte Hungersnot, begleitet von Racheorgien.
Nun hat sich auch Weißrussland aus der Union verabschiedet. Der wegen des Staatsstreichs ununterzeichnet gebliebene Unionsvertrag wird wegen des Zusammenbruchs des Staatsstreichs für immer ununterzeichnet bleiben, zumindest dieser. Hier hält man eine lose Konföderation für möglich.
Arnold Schölzel kann sich Russland nicht ohne die Ukraine vorstellen. Aber warum sollten sie künftig nicht Handel treiben? Die EG wird ihre Agrarüberschüsse kaum durch ukrainische Agrarimporte vergrößern wollen. Arnolds tiefer Kummer, der an Verzweiflung grenzt, kommt meines Erachtens zu spät, wäre spätestens vor einem Jahrzehnt – andere würden sagen, vor drei Jahrzehnten – überfällig gewesen. Die Ursachengeschichte eilt den Folgengeschichten für gewöhnlich weit voraus.
Mit Katja Maurer einen letzten Artikel für den »Freitag« vereinbart. Aber was gibt es da noch zu sagen? Bislang habe ich immer versuchen können, das Geschehen auf künftige Handlungsmöglichkeiten hin zu untersuchen. Bisher konnte ich immer in einen durch G aufgespannten Horizont mit sozialistischer Perspektive eintreten.
Die Bewegung hatte sich längst verlagert, die Hoffnung, wo sie nicht dumm geworden war, war längst woanders. Wir schrecken zurück vor der nachträglichen Entwertung unermesslicher Anstrengungen.
Was ist zu sagen? Ja, die Dialektik des Staatsstreichs hat, schneller als erwartet, die vorausgesagte Wirkung gezeitigt. Das Kräftegleichgewicht zerstört, damit Gorbatschows Stellung. Mit Antje Vollmer: dass es zur »Glorious Revolution« werden konnte, ist das Werk der Perestrojka, die freilich nicht Umgestaltung des Sozialismus, sondern nur der politischen Institutionen und der geistigen Lage des Landes werden konnte.
Eine antimythische Bilanz zu ziehen. Sonderbar, dass man tief empfinden kann, mitzuverlieren, wo man zuvor wenig erwarten konnte. Dass die Systemkonkurrenz die Dritte Welt freisetzte, dass sowjetische Unterstützung Drittweltrevolutionen die Möglichkeit gab, sich zu behaupten, das alles verlor zunehmend sein Gewicht seit Mitte der siebziger Jahre. Die Standardausrede, äußere Feindschaft habe die Entfaltung gehindert, erscheint nun wie eine Lebenslüge. Im Gegenteil, der Notstandsstaat bedurfte der Ausnahmezustände; ihrer militärischen Logik war er gewachsen. Den zivilen Logiken, aus denen sich Zusammenhalt und Wirtschaftsblüte einer Gesellschaft ergeben, war er nicht gewachsen. Wir können nicht anders, als unseren enttäuschten Hoffnungen nachzuweinen, objektive Möglichkeit aber waren sie schon lange nicht mehr.
Muss man also gegen das nostalgische Klagen anschreiben, gegen Begriffslosigkeit, aber auch gegen das Mit-den-Wölfen-Heulen? Für das Neu-Entspringen kritischen Denkens in der Marx-Nachfolge?
26. August 1991
Statt vom Amt des Unionspräsidenten zurückzutreten, hat Gorbatschow Präsidentschaftswahlen angekündigt. Das könnte ein Abgang für ihn selbst von der politischen Bühne sein, der seinem Projekt und seinen Überzeugungen entspräche. Fürs erste ist der Kongress der Volksdeputierten einberufen, der wohl auch den Obersten Sowjet neu wählen wird. Schewardnadse ist wieder als Außenminister und Jakowlew als Parlamentspräsident vorgeschlagen worden.
Im Tagespiegel vom Samstag (24.8.) ein herausragender Bericht von Uwe Engelbrecht, der zornig zupackend Jelzins Bewegung als Gegenputsch charakterisiert. »Auf den missglückten Putsch der Reaktionäre folgte ein unblutiger, aber für die demokratische Zukunft des Landes nicht minder verheerender Gegenputsch«: Kompetenzen der UdSSR okkupierend. Pressepolitik: Die Jelzin nahestehenden Medien betrieben schon in den letzten Monaten vor dem Putschversuch »kritiklose Beweihräucherung« Jelzins. »Professionell besser gemacht als die Medien der Breschnew-Ära gleichen sie diesen doch in einem Punkt aufs Haar: Informationsanteil – vielleicht zwanzig Prozent; Agitprop – der große Rest.« Nach den drei Tagen Maulkorb vonseiten der Putschisten begann jetzt »die systematische Knebelung im Namen der Demokratie«.
Engelbrecht voller Empörung darüber, wie Jelzin G »als Beute« vorgeführt hat. Demütigung im Fernsehen, von J inszeniert »auf eine Weise, die er einst als Provinzfunktionär zur Niederknüppelung von Gegnern erlernt haben muss«. Im Saal eine »Orgie von Unkultur«, an der sich auch der Augenarzt Fjodorow beteiligte.
Engelbrechts Bericht macht mir Mut zu einem Gedanken, der in den letzten Tagen halbgedacht in meinem Kopf umgeht: es ist, als wäre hier das Karrieremuster einer Passion am Werke, nach dem bedeutende Menschen in die geschichtliche »Unsterblichkeit« hineinsterben. Station am Kalvarienberg, die fürchterliche Schädelstätte, deren Bild in das jenes Trümmerbergs übergeht, der sich vor dem schreckgeweiteten Blick von Benjamins Angelus Novus auftürmt. Das Jetzt nur Durchgangsstadium in einem Fortsturz. Der herrschende Jubel, den nur wenige aufrechte Journalisten und Russlandkenner zu stören wagen, geht in das Gegröle des russischen Parlaments über bei der unzivilen und unzivilisierten Zurschaustellung des gedemütigten Boten einer zivileren und zivilisierteren Gesellschaft. Und doch ist Michail Gorbatschow nicht hauptsächlich eine »tragische Figur«, obwohl er es auch ist, denn er musste »schuldig« werden, um seine historische Schuldigkeit tun und von der Szene gehen zu können. Potentat, der er qua Amt war, spielte er à qui gagne perd, wer gewinnt, verliert. Seine Obermacht musste sich abschaffen, indem sie sich verwirklichte. In dieser Hinsicht ist Gorbatschows Scheitern eingeplant, und so hat Enzensberger ihn schon vor zwei Jahren verstanden. Was jetzt geschieht, ist nicht so sehr ein Personenwechsel an den Machtpositionen, als ein Strukturwechsel der Macht. Der totalitäre Sozialpaternalismus ist von innen heraus und von oben herab abgebaut worden, und einen anderen Weg zu seiner Abrüstung konnte es nicht geben.
In der »Süddeutschen« sagte Hassan Hussejnow (Gassan Gussejnow, Jg. 1953), der als klassischer Philologe an der Lomonossow-Universität lehrt, im Gespräch mit Werner Paul: »Die Perestrojka geht zu Ende, das normale Leben beginnt. […] Das Provisorische ist weg.« Ohne G und seine Perestrojka »hätte es die Brüche in der totalitären Massengesellschaft nicht gegeben, ohne diese Brüche wäre der Putsch keine Operette, sondern blutiger Ernst«. Infolgedessen hat »die Armee nicht mitgemacht« (erster unmittelbarer Grund) und es »ging ein Teil der Moskauer zum russischen Parlament, um es zu verteidigen. Aber ein viel größerer Teil der Bevölkerung stürzte sich in die Läden, um Defizitwaren zu ergattern, die auf Befehl der Putschisten eingeliefert wurden.« Die Putschisten verkannten, dass die autoritären Traditionen Russlands, auf die sie sich stützen zu können glaubten, im Ergebnis von sechs Jahren Perestrojka »bereits brüchig geworden« sind. »Die unerschütterliche Grundüberzeugung, dass die Unfreiheit ein nicht wegzudenkender Bestandteil der menschlichen Existenz« sei, habe auch in seiner Generation noch Gültigkeit gehabt.
Das geistige Klima der letzten beiden Jahre der Perestrojka schildert Hussejnow als geprägt durch Okkultismus, Magie, »verschiedene Formen der sozialen Pornographie«, Antisemitismus und ein orthodox-klerikales »Affentheater«, wenn Priester Sportfeste und Läden einsegneten usw. Universalismus wurde zurückgedrängt und man ging »einfach vom kommunistischen Totalitarismus zu einem posttotalitären, kulturfeindlichen Pseudopluralismus über, der Verstand bleibt auf der Strecke«.
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Nebenbei: Nachdem im März ein Verfassungsschutzbericht über die »Marxistische Gruppe« (MG) veröffentlicht worden war, erklärte diese sich im Mai für aufgelöst aus Rücksicht auf »die berufliche Existenz der Befürworter unserer Sache«. Dass dies gerade im gegenwärtigen Umbruch, gibt zu denken. Sollte wieder einmal ein Mohr seine Schuldigkeit getan haben? – Monty Johnstone erwähnte die Meldung in einem Brief.
26. August 1991 (2)
Die Sowjetunion nur mehr ein Wort, ansonsten ein riesiger Raum in Dekomposition. Von allen Seiten werden sich Außeneinflüsse geltend machen. Ein auf Erbeutung wartendes Land. Das wird Kompradorenbourgeoisien