Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Fritz Haug
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783867548625
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Realität, die wir unbedingt respektieren müssen.

      15. Juli 1991

      Westdeutschland in die »Dominanzfalle« geraten (Karl-Otto Hondrich).

      20. Juli 1991

      Die unendlichen Mühen der Gramsci-Übersetzung machen mich verstummen.

      22. Juli 1991

      Gestern Tanja und Michael (»Micha«) Brie zu Besuch. Durch die Blume boten wir Micha die Mitherausgeberschaft des Argument an, und durch die Blume lehnte er ab. Er sprach von Resonanz und gegen Ghetto. In letzterem scheint er uns zu sehen. Durch die Blume sprechend hielten wir schonende Distanz, aber man spürte es körperlich wie einen Krampf. FH wurde gröber, sprach von Überläufern zu Habermas. Micha ergänzte: zu Luhmann.

      Vor 14 Tagen wurde er fristlos entlassen wegen seiner Stasi-Mitarbeit, hat aber geklagt.

      26. Juli 1991

      Jugoslawien. – Eine anscheinend instinktiv befolgte Machtlogik der FAZ-Schreiber: Stärkung der Einheit bei ›uns‹ und den ›uns‹ befreundeten Mächten (der katholischen Kirche, den USA …), Schwächung der anderen, der tatsächlich oder möglicherweise in irgendeiner (oft unklaren) Weise konkurrierenden Mächte. Jugoslawien soll verschwinden, ›wir‹ sind, wie selbstverständlich, im Bunde mit den national ausscherenden Kräften. Die Chaosdrohung des Bürgerkriegs geht – natürlich nur bei ›den Anderen‹ – immer von den größeren Einheiten aus, nie von ihrer Zerlegung. Man muss den untergründigen Filiationen nachgehen, die solche instinktiven Parteinahmen tragen: der große Marktinteressent Bundesrepublik übt – als ein in Wechselwirkung mit anderen seinesgleichen Getrieben-Treibender – eine devastierende Wirkung auf Vergesellschaftungsformen aus, die sich auf niedrigerem Produktivkräfteniveau regulieren; ihre Desintegration setzt dort relative Marktinteressenten heraus, die alsbald das Weite suchen möchten. So zunächst Slowenien, der höchstindustrialisierte und finanziell das ganze Land durchdringende Norden. Auf offenem Markt wird Slowenien es zu nicht viel mehr als zu einem Klientenstatus gegenüber den entwickelten Zentren der EG bringen. Erhofft wird die Ankunft des bis dato jenseitigen Kapitals.

      In der SU könnte zuwege gebracht werden, was Jugoslawien versäumt hat: ein zwischen den Mitgliedsrepubliken ausgehandelter neuer Unionsvertrag. Würde die Union zur bloßen Schattenunion, in der alle Macht bei den Republiken läge, könnte das Ganze sich wie das britische Commonwealth in irgendeine lockere Formation mit allen möglichen Übergangsformen zwischen Integration und völliger Auflösung verwandeln. Ob eine solche Struktur der multinationalen Realität der Bevölkerungen Rechnung tragen könnte? Ob sie in der Lage wäre, die nationalistischen Antagonismen notfalls mit Gewalt in rechtsstaatliche Bahnen zu kanalisieren?

      Gorbatschow proklamierte vorgestern den Abschied der KPdSU vom Klassenkampf. Nach Stalins »Staat des ganzen Volkes« nun die »Volkspartei«, aber diesmal sozialdemokratischen Typs, in einer Gesellschaft agierend, die weitgehend entstaatlicht ist und sich zunehmend kapitalistisch reguliert. Jedenfalls versucht G, den bisherigen Hauptakteur zu transformieren, um eine handlungsfähige Kraft »sozialistischer Orientierung« (mehr nicht) zu behalten.

      Übrigens »dereguliert« jetzt auch Indien: »sozialistische« Elemente werden abgerissen, Währungs- und Außenhandelspolitik liberalisiert. Die Inder werden sich wundern. Anscheinend gilt jede Form eines sozialstaatlichen »Merkantilismus«, das heißt der Bewahrung ökonomischer Handlungsfähigkeit auf nationaler oder regionaler Stufenleiter, als zum Scheitern verurteilt.

      29. Juli 1991

      Unserer Initiative zur Rettung der MEGA war ein zwar begrenzter, aber immerhin vorläufiger Erfolg beschieden. Bis Ende des Jahres gibt die Treuhand entsprechende Mittel (für den Verein) frei.

      Dämonisierend dagegen gewandt hat sich der mainzer Soziologe Helmut Schoeck in der Welt vom 14. Juli: »Marx, krankhaft herrschsüchtig und hasserfüllt, säte eine Saat, die genauso aufging, wie er es gewollt hatte, in totaler Destruktion. Wie es jedoch nach der Zerstörung aller vorgefundenen Lebensgrundlagen weitergehen soll, darüber steht bei Marx und Engels nichts.« Groteskes Gekreische. Gegen den Vorschlag des Ministers Ortleb, eine kritisch-marxistische Beschäftigung mit dem ML irgendwo pflegen zu lassen, denn: »Die Wiederentdeckung des Marxismus im Westen als ›Lehre des Heils‹ vor 20 Jahren in der 68er-Bewegung war von ein paar Marxismus-Lehrstühlen in Westdeutschland aus inszeniert worden. Will Minister Ortleb davon unbedacht [?] eine Wiederholung herbeireden?« – Schoeck sollte selbst mal versuchen, eine solche Bewegung von seinem Lehrstuhl aus zu inszenieren. Wir, die wir daran aktiv beteiligt waren, verfügten jedenfalls über keine Lehrstühle.

      30. Juli 1991

      Am 2.7. hat Jakowlew in der Iswestija die KPdSU abgeschrieben. An ihren Strukturen habe sich, besonders in der russischen Partei, nichts geändert. »Nur die alte Faust, eingebaut in das System Stalins und Breschnews«, sei weg. Merkwürdig, wie J. die Gegner des Übergangs zu kapitalistischer Marktwirtschaft, unter denen doch sicher auch aufrichtige Sozialisten sind, auf den einzigen gemeinsamen Nenner des »grenzenlosen Egoismus« bringt. Andererseits kann ich ihm nicht widersprechen, wenn er die Revolution-von-oben als erschöpft und ihre Reserven als ausgelaugt beschreibt sowie vorhersagt, mit hoher Wahrscheinlichkeit sei mit Versuchen zu rechnen, »mit den Ideen der Perestrojka und ihren Initiatoren abzurechnen«. Insgesamt ein Aufruf zur Gründung einer »Demokratischen Partei«.

      9. August 1991

      Im Doppelsinn ›historischer‹ Fehler, das Neue nicht aus dem Vorhandenen schaffen zu wollen. So in der SU: aus den vorhandenen Entitäten und Akteuren des Wirtschaftens müssten die neuen geschaffen werden. Privatkapitalismus zu wünschen töricht. Schon wieder ein Großer Sprung, aber diesmal rückwärts-vorwärts, zunächst das Gewesene überspringend, dann das Werden.

      19. August 1991

      Heute Nacht um vier wurde Gorbatschow durch einen Putsch abgesetzt. Morgen wäre der neue Unionsvertrag unterschrieben worden. Ausnahmezustand. Möglich, weil Gorbatschows Position längst dishegemonial geworden war. Die Zwangseinheit wird das reorganisatorische Moment verspielen und Zerfall und Bürgerkriege ernten.

      *

      Während in Moskau der Umsturz lief, verbrachte ich nichtsahnend meine seit Wochen erste Nacht ohne ›philologisches‹ Zwangsdenken. Band 2 der Gefängnishefte ist fertig, nur noch die letzten Korrekturen sind zu kontrollieren. Morgen geht das Buch in die Druckerei.

      Gestern Abend besuchte mich Michail Nelken. Hat seit 1980 im Akademieinstitut für Philosophie gearbeitet, in der Abteilung für Geschichte des Marxismus. Dort wurde man in Ruhe gelassen. Nur als ein Kollege über August Thalheimer arbeiten wollte, griff Buhr ein, der Komplikationen voraussah: das Thema war zu parteinah. Dennoch glaubte Nelken 1980, sich in der Epoche geirrt zu haben, als er im Zuge des Parteiverfahrens gegen Ruben den Stalinismus in Aktion erlebte, und zwar nicht etwa den von oben, sondern den verselbständigten eines sozialen Mechanismus, wie er innerhalb der Parteigruppe spielte.

      *

      Katja Maurer vom »Freitag« bestellte einen Artikel zum Staatsstreich. Zum Glück ist der Gramsci in der Druckerei, und ich nehme den Auftrag an. Aus Genf ruft Helen Brücker vom »Vorwärts« an und will den Artikel ebenfalls.

      Keine Kremlastrologie, aber doch Rätselraten um Gorbatschow, hat er im Glashaus gelebt?

      Auf dem Spiel: Die um ein Haar erreichte Ablösung des Zentral-Superstaats durch eine von den Republiken eingegangene lockere Union. – Zivilgesellschaftliche Ordnung mit individuellen Menschenund Bürgerrechten, unabhängig von ethnischen und nationalen Kollektivzugehörigkeiten.

      20. August 1991

      Die sowjetische »Junta« besteht aus Leuten,