Auch die TAZ ließ »das Volk« dem Ruf Jelzins folgen. In Wirklichkeit kamen in Moskau nicht eben viele. Ihr Mut war ungeheuer wichtig, aber er war nur das Material, aus dem sonst, zum Beispiel 1973 in Chile, von der FAZ gefeiert, Märtyrer in Massen geschaffen werden. Die Repressionsmaschinerie wurde als finsteres Ornament der Drohung ausgefahren, und die Frage ist, wieso es bei der Drohung blieb. »Bisher«, schrieb Walter Süß in der TAZ (21.8.), »scheinen sie noch zu glauben, die bloße Drohung werde genügen.« Um (wenigstens vorübergehend) zu gewinnen, hätten die Putschisten »ihren bisherigen konservativ-zentristischen Kurs aufgeben und zu offener, massiver Repression übergehen« müssen. Süß hat recht, die bloße Drohung wirkte nicht mehr. Aber warum hat die Junta es bei ihr belassen? Vielleicht ist es nicht übertrieben zu sagen: im Militär hat sich die Auseinandersetzung entschieden – durch seine Spaltung. Und was hat diese bewirkt? War es das hervorgekehrte Russentum Boris Jelzins? Dann sollte sich die FAZ das Bejubeln »nationaler« Bewegungen nochmals überlegen: von ihnen ist zunächst Russland gefährdet, innerhalb dessen Grenzen sich die Proklamationen autonomer Gebiete multiplizieren. Russentum wird nicht vor großrussischem Chauvinismus schützen.
»Die Sowjetunion ist nie das geworden, was mit der Oktoberrevolution 1917 erreicht werden sollte.« (Johannes Grotzky, Herausforderung Sowjetunion. Eine Weltmacht sucht ihren Weg, München 1991) – Ganz recht, sagt Jasper von Altenbockum in seiner Rezension (FAZ von heute): »Sie ist wieder das, was sie schon immer war: ein absolutistisch verwaltetes Vielvölkerreich, eine Kolonialmacht, ein Völkerkerker.« Es sind, werden wir belehrt, hundertundfünf ethnische Gruppen und Völker. Wunderbares Material, um es zur Weltmarktsubalternität zu ›befreien‹.
Mit dem Rubel geht es wie seinerzeit mit der Mark der DDR, er fällt ins Bodenlose, als er noch 4 Pfennige brachte, wurde der Handel eingestellt, dem Angebot stand keine Nachfrage mehr gegenüber, und der Rubel wurde, zumindest in Berlin, unverkäuflich. Das war am Dienstag. Vermutlich drückten Fluchtgelder auf den Markt.
Gorbatschow sah »gut« aus, im Sinne von urlaubsartig, obgleich es zwei Uhr nachts war, als er auf dem Flughafen anlandete. Er wirkte erschüttert, weich, das Peronistische, das sich in den letzten beiden Jahren immer öfter in seine Züge geschlichen hatte, war abgefallen. Man habe ihn 72 Stunden von der Außenwelt abgeschnitten, ihm nicht einmal Fernsehen gestattet. Offenbar habe man seine Zustimmung erpressen wollen. Er habe standgehalten, weil ihm klar gewesen sei, dass die Verschwörer nicht durchkämen. Nur deshalb?
Die Verlierer sehen natürlich schlecht aus. Ihr Abgang wie Schmierenkomödie. Man darf sich dadurch nicht beeindrucken lassen. Es ist, als wären diejenigen, die noch gestern G politisch totgesagt haben, den Putschisten gram ob dieser ihrer erwiesenen Unfähigkeit. Die TAZ (Helge Donath) verspottet die »unentschlossene Altherrenriege«, als wäre eine entschlossene Jungmännerriege besser. Und sie spricht vom »Moskauer Schmierentheater«, weil »Lumpen und Feiglinge in der Hauptrolle«. Als stünden Pinochetisten in einem höheren Würderang. Merkwürdig auch, dass die TAZ noch danach als »Gefahr« ausspricht, was doch die einzige Hoffnung (und tatsächliche Lösung) war, dass sich »verschiedene Teile der Armee nun auch militärisch gegenüberstehen«.
Die Hydra des Extremismus begleitet seit Montag das Geschehen wie eine schwarze Wolkenfront im Hintergrund. G soll den Putsch gegen sich womöglich selbst geplant haben. Das cui bono des Gerüchts liegt auf der Hand. Vertuscht werden soll, dass G ja das erste tatsächliche Opfer war, nicht Jelzin. Segbers im Fernsehen verkörpert, als er mit solchen Gerüchten konfrontiert wird, blendend TV-gerecht den engagierten Sachverstand, der ein seltenes Glück für die Öffentlichkeit ist, wenn er auf einen Gatekeeper-Posten kommt.
»Michail Gorbatschow ist wieder an der Macht«, mit diesem Satz der Nachrichtensprecher beginnt auch die TAZ. Dieser Satz stammt aus dem Weißen Haus der USA; im Telefonat mit dem US-Präsidenten soll Gorbatschow gesagt haben: »Ich bin wieder an der Macht.« Aber der Satz ergibt keinen Sinn, denn da ist kein Wieder, und »die Macht« ist quantitativ und qualitativ ruckartig verändert, weil die Kräftekonstellation es ist, aus der sie resultiert. Die Macht ist jetzt woanders.
Bilder der Freude aus Moskau. Sie dürfen nicht davon ablenken, dass der Staatsstreich in der Bevölkerung weithin auf Gleichgültigkeit oder sogar Zustimmung gestoßen ist.
Die Schlagzeile der TAZ auf der Titelseite lässt noch den alten Witz der Subversivzeitung erahnen: »Gorbatschow wieder gesund«. Bereits der Untertitel angesteckt vom ideologischen Wahn des Westens: »Das Ende des Sowjet-Imperiums«. Statt die Transformation zu sehen. Christian Semmler, ehedem »KPD«-Führer, schreibt: »Die Niederlage der Putschisten setzt den endgültigen Schlussstrich unter das sowjetische Imperium.« Klaus Hartung: »Und die Wahrheit ist: Die Demokratie existiert. […] die Perestrojka kann nicht mehr scheitern, denn sie ist schon von der Demokratie abgelöst worden. Jetzt geht es nicht mehr um Umgestaltung, sondern um die Demokratie selbst. […] Die Demokratie wurde in diesen Tagen geboren.« Den Staatsstreich versteht er als den Versuch, »mit einer Palastrevolte eine neue Zentralgewalt zu simulieren«.
Jewgenij Bowkun sagte zum »Freitag«, es sei das Verdienst von G, »dass der Putsch fast ein Jahr hinausgezögert werden konnte. Das haben die demokratischen Kräfte dazu nutzen können, sich zu konsolidieren.« In dieser Zeit wurden die parlamentarischen Institutionen Russlands geschaffen. Ohne sie hätte Jelzin nicht die Legalität beanspruchen können.
Kohls Selbstrechtfertigung hinsichtlich des Tempos der deutschen Einheit umdrehend, schreibt Michael Jäger: »Hätte er die Vereinigung nicht mit dem Tempo des Bankräubers durchgezogen, der sich beim Einbruch beeilt, weil er die Polizei schon unterwegs weiß, Gorbatschow wäre vielleicht noch heute im Amt.«
Das ist als Retourkutsche gut, aber vielleicht nur gut gemeint. Doch Jäger hat recht, dass die Vorenthaltung materieller Hilfe seitens des Westens Gorbatschow geschwächt hat und dass die Vorbedingung eines sofortigen und totalen institutionellen Übergangs zum Kapitalismus darauf hinausläuft, dass »der Sowjetunion kein ›eigener Weg zum Kapitalismus‹ gestattet« ist.
Die »ZEIT« von heute veraltet. Haben anscheinend einen langwierigen Produktionsprozess. Ulrich Greiner: »In Gorbatschows Politik war Glasnost folgenreicher als die Perestrojka. Diese ist gescheitert, jene aber hat Veränderungen bewirkt, für die nur das Wort Revolution taugt.« Da spricht Selbstüberschätzung eines Journalisten: die Medien konnten geschlossen oder unter Kontrolle genommen werden, während das politische Produkt der Perestrojka, das russische Parlament mit seinem vom Volk gewählten Präsidenten, zur »Bastion demokratischer Legalität« (Semmler in der TAZ) wurde.
Von Biermann hochmütige Fehleinschätzungen der russischen Bevölkerung, auch der Bergarbeiter, denen er, ihren politischen Streik unterschlagend, vorhält, sie hätten bloß für »ein Stück Seife mehr pro Mann und Monat« gestreikt.
22. August 1991 (2)
Von den sowjetischen Journalisten kriegt G genaue Fragen nach den Verantwortlichen und nach seiner Verantwortung, da er jene doch in ihre Machtstellungen berufen hat. Er holt weit aus und weicht auch aus. An der Partei hält er fest. Und an der sozialistischen Idee. Man merkt, dass er die KPdSU gerne in eine große sozialdemokratische Partei umformen würde. Sanktioniert die inzwischen von Jelzin und dem russischen Parlament erlassenen Dekrete.
Gerhard Simon (BIOST) sieht ihn Mitleid heischen und Zustimmung fordern. Die russischen Dekrete sanktionierend wisse G vermutlich noch gar nicht, was sie enthalten: Enteignung der KPdSU (ZK-Gebäude und Zeitungen), Abschaffung der Roten Fahne, eine eigene russische Armee, Russifizierung der gesamten Industrie. In der Tat markieren diese Landnahmen eine ungeheure Machtverschiebung. Jelzin schmiedet das Eisen, das jetzt noch heiß ist. Es gibt kein sowjetisches Fernsehen mehr, nur mehr ein russisches.
Dass G an der Partei und der sozialistischen Orientierung festhalten will, kommentiert die westliche