Warum wir das schaffen müssen. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783865068873
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der Credo-Gemeinde, einer evangelischen Freikirche des Mülheimer Verbandes. Pastor Timm Oelkers und seine Frau wollten schon lange gerne mehr sozial-diakonisch arbeiten – am liebsten mit Menschen mit Migrationshintergrund. Doch der Stadtteil, in dem sich die Gemeinde befindet, ist der wohl gut betuchteste Stadtteil in Mülheim, mit einem geringen Ausländeranteil. Als „Willkommen in Mülheim“ sein Warenhaus ausgerechnet gegenüber eröffnet, scheint das perfekt zu passen. Und als dann im Winter die Wartenden in der Kälte stehen müssen, bis sie ins Lagerhaus können, entsteht die Idee eines Flüchtlingscafés.

      „Im Sommer konnten die Menschen auf Plastikstühlen draußen warten und saßen dort, während die Kinder auf dem Hof spielten. Aber im Winter war es zu kalt für sie“, erzählt mir der Pastor.

      Kurzerhand öffnet die Gemeinde jeden Samstagnachmittag ihre Türen. Mit ihrem Flüchtlingscafé bietet sie so eine Möglichkeit, in gemütlicher Atmosphäre einen Kaffee zu trinken, Gebäck und Obst zu essen und Kontakte zu knüpfen. Hier könnte ich helfen, in meiner Stadt.

      An einem Samstag im Sommer gerate ich „zufällig“ mitten ins Flüchtlingscafé. Eigentlich wollen meine Freundinnen und ich nur schnell Flyer abgeben. Aber es werden dringend helfende Hände gesucht, und so bleiben wir.

      Es ist ein wuseliger Nachmittag. Immer mehr arabische Familien kommen, nehmen sich Kaffee und Kuchen und lassen ihre Kinder währenddessen im Spielbereich spielen. Es ist laut, die Kinder rufen und lachen, die Männer unterhalten sich, und die Frauen versuchen, ihre Familien zusammenzuhalten. Ich stehe hinter der Theke und schneide Kuchen und Obst. Einer der Gäste spricht ein paar Brocken Deutsch und Englisch. So wird ein kurzes Gespräch möglich. Er ist schon ein paar Monate in Deutschland und wurde von der Stadt in einer Wohnung untergebracht, in der er mit anderen Flüchtlingen lebt. Er ist vor allem hier, um für seine Landsleute zu übersetzen.

      Am Ende des Nachmittags kenne ich zwei Initiativen, bei denen ich mich engagieren könnte, um etwas für die Flüchtlinge zu tun. Aber wie nah will ich sie an mich heranlassen?

      Als ich ein paar Tage später im Auto sitze und im Lokalradio die Nachrichten höre, erklärt der Sprecher, dass noch in dieser Woche bis zu 150 Menschen in ein Erstaufnahmelager in einer Sporthalle einziehen werden. Gemeinsam mit drei Freundinnen überlege ich, wie wir den Menschen am besten helfen können.

      Die Flüchtlinge kommen von der ersten Registrierung in Dortmund mit Bussen in unsere Stadt, und als sie aussteigen, haben sie all das bei sich, was ihnen noch gehört – das ist meist nur die Kleidung, die sie am Körper tragen. Meine Freundinnen und ich möchten gerne in irgendeiner Form helfen. Durch den Verein „Willkommen in Mülheim“ sind die Menschen mit Kleidung und Hygieneartikeln versorgt, sodass wir überlegen, an einer anderen Stelle anzusetzen: Wenn wir Spielsachen mitnehmen und Bastelmaterial, könnten wir den Kindern etwas Abwechslung bieten. Ein Programm oder feste Aktionen gibt es im Quartier nicht. Die Credo-Gemeinde hat bereits Kontakte zur Leitung des Erstaufnahmelagers geknüpft, sodass wir uns mit einigen ehrenamtlichen Helfern verabreden und gemeinsam mit ihnen ein Spiele-Angebot ausarbeiten.

      An einem sonnigen Nachmittag ist es so weit. Vor dem Quartier treffe ich mich mit einigen anderen Helfern. Wir haben Spiele und Bastelsachen dabei, um mit den Kindern auf dem Schulgelände, auf dem die Turnhalle steht, zu spielen. Im Massenquartier angekommen, begrüßen uns Mitarbeiter der Johanniter Unfallhilfe. Sie leiten das Quartier gemeinsam mit dem Deutschen Roten Kreuz. Innerhalb von Stunden haben sie in dieser Woche Betten aufgebaut und mit Bauzäunen Parzellen abgetrennt, damit die Menschen wenigstens einen Hauch von Privatsphäre haben. Es ist ruhig – fast so, als seien die Menschen noch gar nicht da. Der hintere Bereich des Schulhofs ist voll mit großen Zelten. Eines zum Essen, eines als Aufenthaltsraum und eines für Gebete. Eine der Frauen aus unserer Gruppe spricht ein wenig Arabisch. Das macht den Anfang leichter. Wir gehen durch die Turnhalle und laden die Kinder ein, mit uns zu kommen.

      Den Nachmittag verbringen wir mit den Kindern und ihren Müttern. Eine von ihnen ist mit Drillingen schwanger. Wie es wohl sein muss, so eine beschwerliche Reise zu machen, während man nicht nur die eigenen Kinder an der Hand hat, sondern auch die Verantwortung für drei kleine Wesen in seinem Körper? Wir hören von der abenteuerlichen und gefährlichen Reise einer anderen Familie. Sie sind drei Tage und drei Nächte in einem Lastwagen mitgefahren, haben nur Bananen gehabt, die sie den Kindern und ihrem Baby zu essen geben konnten. Am Ende der Reise setzte der Fahrer sie an einer Hauptstraße ab und fuhr weiter. Erst an einer Tankstelle erfuhren sie, in welchem Teil des Landes sie sich aufhielten. Diese Geschichten klingen wie aus einem falschen Film. Wie können diese Menschen vor uns tatsächlich solche Dinge erlebt haben?

      Wir verständigen uns mit Händen und Füßen. Einer der Bewohner spricht Italienisch, sodass sich eine von uns mit ihm unterhalten kann. Alles andere läuft über Zeichen und viel Lachen. Die Menschen sind unheimlich wissbegierig und reden alles nach, was sie an deutschen Worten aufschnappen. Sie zeigen auf den Stift oder die Schere, auf den Ball und das Springseil und wollen wissen, wie all diese Dinge heißen. Ein Junge kommt angelaufen und möchte Seilspringen. Bei jeder Umdrehung zählt er auf Deutsch, bis er nach der Zwölf nicht mehr weiterweiß.

      Ich sitze in einem der Zelte neben einer Jugendlichen. Ihr Name ist Ania (Name geändert), und sie überrascht mich, denn sie spricht gut Englisch. Das habe ich nicht erwartet. Wir unterhalten uns, und sie erzählt mir etwas über ihre Familie.

      „Ich bin mit meiner Mutter und meinem Bruder hierhergekommen“, erzählt sie. „Mein Vater musste in Albanien bleiben.“

      Während wir reden, setzen sich ihre Mutter und ihr Bruder zu uns. Plötzlich beginnt Ania zu weinen.

      „Ich möchte einfach nur in Freiheit leben. Ich möchte frei sein und Ärztin werden. Das ist mein größter Wunsch. Dann kann ich auch Menschen helfen.“

      Sie sieht zu ihrer Mutter herüber. Auch sie weint jetzt. Ich nehme Ania in den Arm und lege meine andere Hand auf den Arm ihrer Mutter. Mir ist mehr als bewusst, dass ich ihnen nicht helfen kann. Ich kann ihre Situation nicht verändern und auch nicht dafür sorgen, dass sie bleiben können. Wenn ich ein Wort für sie einlegen könnte, würde ich das tun. Aber ich wüsste nicht einmal, wo! Also sitze ich einfach bei ihnen am Tisch und versuche da zu sein, zu trösten, mitzufühlen. Ihre Mutter spricht kein Englisch.

      „Ania, kannst du deiner Mama übersetzen, dass ich es schön finde, euch kennenzulernen?“, bitte ich die 17-Jährige.

      Sie übersetzt diesen einfachen Satz für ihre Mutter, und diese antwortet mir auf Albanisch. Ania dolmetscht: „Wir haben Angst, dass wir zurückmüssen. Wir wissen nicht, was mit uns passiert und wie es weitergeht – aber wir haben Angst, dass alles umsonst war und wir nicht bleiben dürfen.“

      In diesem Moment fehlen mir die Worte. Denn ich weiß sehr genau, dass nur 0,03 Prozent der Menschen aus diesen „sicheren“ Staaten bleiben dürfen. Die Bleibechancen, um ihren Traum von einem Leben in Deutschland zu verwirklichen, sind verschwindend gering. Umso schwerer ist es, nun die richtigen Worte zu finden. Es ist nicht meine Aufgabe, sie über diese Fakten aufzuklären, und so sitzen wir weiterhin zusammen und sprechen miteinander.

      Die Flüchtlingsströme nehmen in einem Ausmaß zu, das sich niemand so vorgestellt hätte. Recht schnell zeigen sich erste große Schwierigkeiten. Die Situation im Land und in der Politik scheint unübersichtlich. Die Neuankömmlinge im Massenquartier wechseln alle drei Wochen und werden auf andere Flüchtlingsquartiere verteilt. Mittlerweile hat sich ein fester Stamm an Helfern entwickelt, die an zwei Nachmittagen in der Woche ins Quartier fahren. Seifenblasen, Springseil, Bälle, Notizblöcke und Bastelmaterialien werden zum ständigen Begleiter. Die Familien sind nach wie vor sehr dankbar über die Abwechslung, die ihnen etwas von ihrer Langeweile nimmt. Aber auch die hauptamtlichen Helfer versuchen, sich Zeit zu nehmen, und üben mit den Bewohnern auf Zeit ein paar Worte Deutsch. Das Gespräch mit der Familie aber, die Angst vor einer Abweisung hat, hängt mir noch lange nach. Erst auf dem Rückweg nach Hause merke ich, wie anstrengend diese Begegnungen waren. Anstrengend, weil so viele neue Reize auf mich eingeströmt sind und weil es schwer ist, eine emotionale Distanz zu halten, wenn die Schicksale der Menschen so real werden.

       Die Flüchtlinge in meiner Gemeinde