Sind Sie in erster Linie ein „gelassener“ Mensch?
Sind Sie in erster Linie ein „getriebener“ Mensch?
Kapitel 2
Wege aus der Überforderung in der Kindererziehung
Stress ist weltweit ein Belastungsfaktor, der schon Kleinstkinder schädigt. Eltern und Erzieher sind sofort mit betroffen.
Stresssymptome bei Kindern
Vor einiger Zeit ist im schwedischen Göteborg ein neues Stressforschungszentrum gegründet worden.1 Leiter ist ein Kardiologe, also ein Herzspezialist. Nach vielen Jahren der Forschung über die Auswirkungen von Stress auf Kinder schlug er Alarm. Seine Erkenntnisse stammen nicht nur aus Befragungen von Dritt- und Sechstklässlern, sondern aus physiologischen Untersuchungen von Kindern vor dem Schulanfang. Er stellte fest, dass viele Kinder dieser Altersstufe bereits von Arterienverkalkung und Diabetes betroffen sind, die früher nur bei erwachsenen Menschen diagnostiziert wurden. Die Erkenntnis, dass Kinder noch stärker körperlich auf Stress reagieren als Erwachsene, erhärtete sich. Ein Stressfaktor sind unter anderem die unüberschaubaren Gruppen in Kindergärten und Schulen.
Eine zweite Untersuchung wird in der Zeitschrift „Psychologie heute“2 beschrieben. Die Überschrift charakterisiert das Problem: „Kinder mit Bindungsproblemen zeigen zu wenig Gefühle, stehen aber unter starkem Stress.“ Drei Forscher untersuchten das Bindungsverhalten von Müttern und Kindern. In einem Versuchslabor wurden Mütter mit ihren Kindern beobachtet. Die Mütter mussten zweimal ihre Kinder verlassen und jeweils nach einiger Zeit wiederkommen. Das Verhalten von Kindern und Müttern wurde gefilmt und nachher ausgewertet. Gleichzeitig wurden die Herzrate und der Hormonspiegel gemessen. Im Zentrum steht die Frage, wie das Kind mit der belastenden Situation umgeht und wie sein Verhalten mit dem der Mutter zusammenhängt. Bei zahlreichen Versuchen, die weltweit vorgenommen wurden, zeigten sich drei verschiedene Verhaltenstypen.
Typ A: Sicher an die Mutter gebundene Kinder, also mit einer positiven Beziehung, drücken ihren Kummer aus, sie suchen nach der Rückkehr der Mutter Nähe und können sich bei ihr schnell beruhigen. Der Trennungsschmerz lässt sofort nach.
Typ B: „Unsicher-ambivalent-gebundene Kinder“ zeigen den Kummer und suchen die Nähe, aber sie können sich nicht beruhigen. Die Mutter verhält sich nicht verlässlich und konstant gegenüber den Kindern. Mal nimmt sie die Kinder zu sich, mal schickt sie sie weg. Für das Kind ist das Verhalten undurchschaubar. Der Stress bleibt hoch. Die Beziehung zwischen Mutter und Kind ist problematisch. Das Kind leidet.
Typ C: „Unsicher-vermeidend-gebundene Kinder“ ignorieren sogar die Mutter, wenn sie zurückkommt. Sie spielen einfach weiter. Solche Kinder handeln aus der Erfahrung, dass ihre Wünsche nach Nähe und Trost zurückgewiesen werden.
Die Forscher prüften nun: Was geht in den Kindern vor? Sie erhoben physiologische Stressreaktionen bei Kindern mit diesen verschiedenen Reaktionsmustern.
Das Ergebnis ist eindeutig: Bei allen Gruppen stieg die Herzfrequenz gleichermaßen an, obwohl die Unsicher-Vermeidenden so taten, als störte sie die Mutter gar nicht. Als die Forscher allerdings die Speichelproben testeten, und zwar fünfzehn und dreißig Minuten nach dem Trennungsexperiment, um das Stresshormon Kortisol festzustellen, zeigten die Babys aus der Gruppe C den höchsten Kortisolanstieg. Bei den Babys der Gruppe A, also bei den sicher gebundenen, war der Kortisolspiegel abgesunken.
Die dritte Gruppe zeigte auch das größte gehemmte Verhalten. Diese Kinder mussten ihre Gefühle zügeln. Je gehemmter die Kinder, desto größer ihr Anstieg des Stresshormons Kortisol. In dem Bericht heißt es wörtlich:
„Die Kinder (die Gehemmten, die Unsicher-Vermeidenden) sind nicht in der Lage, ihre emotionale Belastung mit Hilfe ihres Verhaltens zu regulieren. Wenn Kinder ihre Gefühle zurückhalten, setzt das ihren Organismus unter Stress. Diese Kinder haben keinen sicheren Hafen. Diese Kinder hängen in der Luft. Sie sind schon als Kleinkinder seelisch belastet.“
Auch Eltern, besonders Mütter, die sich überfordert fühlen, bieten ihren Kindern zu wenig Schutz und Beistand. Die Kleinen fühlen sich nicht angenommen. Ihnen fehlt der Halt. Die Mütter selbst strahlen zu wenig Ruhe und Gelassenheit aus.
Kinder und Kopfweh
Eine steigende Zahl von Kindern leidet unter Kopfweh, etwa an Migräne oder Spannungskopfschmerz. Betroffen ist inzwischen jedes fünfte Kind.
Fachleute gehen davon aus, dass Kopfschmerzen durch das Zusammenspiel von Erbfaktoren und äußeren Einflüssen entstehen. Immer häufiger hören Eltern die Klagen ihres Nachwuchses und fragen sich:
Will das Kind nicht in den Kindergarten oder in die Schule gehen?
Will es sich nur drücken?
Wenn das Kind tatsächlich Beschwerden hat, was steckt dahinter?
Bedeutsam sind die äußeren Einflüsse.
Die Kinder leiden unter Bewegungsarmut.
Sie sitzen stundenlang vor dem Computer oder dem Fernseher.
Sie leiden unter Schlafmangel.
Sie leiden unter Ärger in der Familie oder unter Leistungsdruck in der Schule.
Nicht wenige Kinder haben heute schon einen Terminkalender, der für Stress und Druck sorgt.
Was können Eltern und Erzieher tun?
Betroffene Kinder müssen ernst genommen werden.
Halten Sie Kopfschmerz-Kinder davon ab, unkritisch Arzneimittel zu schlucken. Sie können womöglich das Suchtverhalten fördern.
Reduzieren Sie mögliche Stressfaktoren. Hat Ihr Kind genügend freie Zeit zum Spielen?
Sorgen Sie für viel Bewegung, genügend Schlaf und gesunde Ernährung.
Wenn Sie können, verschaffen Sie Ihrem Kind den Blick ins Grüne. Nachweisbar sind Kinder, die ins Grüne schauen, weniger gestresst und aufmerksamer als Kinder, die aus der Großstadt kommen.
Überfordern wir unsere Kinder?
Wenn es um die Erwartungen der Eltern und Erzieher geht, ja. Im Allgemeinen haben Eltern riesige Vorstellungen, was ihre Kinder leisten sollen. Ihre Wünsche an die Zeugnisleistungen und die Berufspläne liegen weit über dem Niveau, das Kinder selbst vorweisen.
Das Wiesbadener Markt- und Sozialforschungsinstitut ENIGMA beschäftigte sich mit den Erziehungszielen von Eltern. Mehr als tausend Familien wurden befragt. Es ging um Freizeitverhalten, Schule, Finanzen und Werte. Bei Familien mit geringem Haushaltseinkommen sind Werte wie
Pünktlichkeit,
Gehorsam,
Fleiß und Sauberkeit „sehr wichtig“.
In wohlhabenden Familien werden andere Werte mehr geschätzt, nämlich:
Aufgeschlossenheit,
Toleranz,
eine eigene Meinung haben und
Großzügigkeit.3
Insgesamt stellten die Forscher fest, dass Ordnungsliebe und Gehorsam heute auf den letzten Plätzen rangieren. In vielen deutschen Elternhäusern ist verpönt, was einst als Voraussetzung für Entwicklung und Leistung selbstverständlich war. Die Verfasser