Zeitweise vergaß sie sich und vergaß, warum sie da saß. Kaute nur. Aber jedes Mal, wenn sie anfing zu frieren, erinnerte sie sich an den Vogel. Wollte er sich nicht bald sein Essen holen? Auch heute nicht?
Sie nahm die Bröckchen um genau zehn Minuten nach vier von der Fensterbank und schloss das Fenster. Gleich darauf hörte sie immer, dass Frau Karlsen die Haustür aufschloss.
Manchmal erinnerte sie sich an Ingrid. Oder an Onkel Simon und Tante Rakel. Frau Karlsen hatte erzählt, dass Ingrid angerufen habe. Dass sie auf einen Brief von Tora warte. Sie hatte das ganz streng gesagt, so wie der Pastor auf der Insel, als sie in den Konfirmandenunterricht ging. Frau Karlsen war zur Stiefmutter in dem Märchen vom Schneewittchen geworden. Sie schwatzte Tora Ermahnungen auf, die ebenso rot und giftig waren wie der Apfel, den Schneewittchen aß, bevor sie umfiel.
Den erhobenen Zeigefinger hin- und herbewegend, sagte Frau Karlsen: »Man darf nie vergessen, seiner Mutter zu schreiben.«
Und Tora blendete das Geräusch ihrer Stimme aus.
Die anderen hatten die Osterprüfungen an den Tagen gehabt, an denen Tora krank zu Hause gelegen hatte. Der Oberlehrer ließ etwas von einem ärztlichen Attest verlauten. Sie hatten ihn in Mathematik. Tora saß mit geradem Rücken und blassen Wangen da. Der Pullover verhüllte ihre Hüften. Schützte sie jetzt noch immer, obwohl sie nichts mehr zu verbergen hatte. Auch das war gefährlich.
Er sah vom Klassenbuch auf und versuchte, dem Blick des Mädchens zu begegnen. Aber Tora hatte bereits Blickkontakt mit der Weltkarte über der Tafel.
Schließlich ergriff Anne die Initiative: »Tora hat eine Entschuldigung abgegeben. Von der Wirtin. Liegt sie nicht im Klassenbuch?«
»Ja, aber sie hat mehr als drei Tage gefehlt«, bemerkte der Oberlehrer ungerührt.
»Das ist doch nie so genau genommen worden. Hauptsache, die Zimmerwirtin oder die Eltern haben unterschrieben. Sie kann doch jetzt nicht mehr vom Doktor ein Attest erbitten. Sie ist schließlich wieder gesund.«
Verhaltenes Kichern. Eine altbekannte Übelkeit stieg in Tora hoch. Sie sah die blauen Adern um die Nasenflügel des Oberlehrers. Die kalten Augen ohne Ausdruck. Angst breitete sich langsam aus. Sie ging in eine Wut über, die Tora nicht mehr beherrschen konnte. Sie spürte, dass die Schenkel unter dem Tisch zitterten. Ein sonderbar sprödes Läuten war in ihrem Kopf. Wie ein Sausen. Ein Zustand wie nach einem Fieberanfall. Warme Wollbüschel flogen vor ihren Augen vorbei. Sie griff nach dem Tisch, um das Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Registrierte, dass der Mundwinkel sich ihrer Kontrolle entzogen hatte. Wusste, wie sie jetzt aussah. Das ließ sie noch wütender werden.
»Da könnt ich nicht dran denken. Mir war schlecht. Außerdem hatte ich kein Geld von zu Haus … Ich glaub nicht, dass der Doktor in Breiland was umsonst macht.«
Alle Gesichter wandten sich in erstauntem Respekt Tora zu. So eine lange Rede hatten sie bisher kaum je von ihr vernommen. Das Mädchen sah ganz wild aus. Ihr Gesicht war beinahe entstellt. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Mund. Sicher eine Art Lähmung.
Der Oberlehrer sah verlegen ins Klassenbuch. Das hatte er nicht erwartet. Wollte nur den starken Mann markieren. Er hatte ein solches Bedürfnis nach Ordnung, gerade an diesem Tag. Und da endete es damit, dass er echte Verzweiflung sah. Er war beleidigt deswegen und prüfte nicht einmal mehr die Anwesenheitsliste. Merkte nicht, dass Gunlaug nicht auf ihrem Platz saß, weil sie mit ihren Aufgaben nicht fertig geworden war.
Aber als er ins Lehrerzimmer kam, ließ er ein paar Bemerkungen fallen, dass ihm die Klasse etwas ungeregelt vorkomme. Es gebe da einige aufsässige Elemente. Die anderen Lehrer sahen kaum auf. Antworteten nicht. Die Kaffeetassen waren halb leer, der Kaffee nur noch lauwarm. Es war schon lange her, dass die Tassen Freude gemacht hatten.
Der Klassenlehrer war nicht anwesend. Niemand fühlte sich verpflichtet, dem Oberlehrer zu antworten. Der konzentrierte Geruch nach Achselschweiß und Pfeifentabak mischte sich mit dem von Staub, Tinte und kaltem Kaffee. Jeder hatte mit sich zu tun. Undiszipliniertheit war ein Teil ihrer Lebensaufgabe, für jeden von ihnen. Der eigentliche Lebensprozess. Es war beinahe Blasphemie, das Wort auszusprechen. Es hatte so etwas wie eine heilige Schwäche in sich.
Tora wurde nicht mehr nach einem Attest gefragt. Aber sie bekam Hausaufgaben, damit man hieb- und stichfeste Noten für das Osterzeugnis machen konnte. Das war nicht schlimm. Sie nahm die Aufgaben mit in ihr Zimmer und ließ sich Zeit.
Alle Aufgaben, die ein normales Wissen verlangten, waren einfach. Sie hatte viel Platz in ihrem Kopf. Als ob Hausputz und großes Aufräumen gewesen wäre. Was sie aus den Büchern lernen konnte, saß beinahe schon, ehe sie den Text fertig durchgelesen hatte. Aber bei allem, wo sie eigene Gedanken entwickeln musste und was nicht in den Büchern stand, war es hoffnungslos, etwas Vernünftiges zustande zu bringen. Sie hatte das eigene Denken verloren. Konnte nur mechanisch lernen. Von hier bis da. Wie ein Roboter. Mathematikaufgaben nach bestimmten Regeln lösen. Verben konjugieren. Historische Fragen voller Namen und Zahlen beantworten. Zahlen! Sie waren magisch und gut.
Aber das nützte ihr nichts, wenn sie einen Aufsatz schreiben musste. Viele Seiten voller Gedanken, die nur aus ihr selbst kommen sollten. Vielleicht schrieb sie etwas, was zu Fragen nach dem Attest führte.
Die Wörter waren so gefährlich.
Sie bekam schreckliche Kopfschmerzen, wenn sie die Wörter durchsiebte. Misstrauisch setzte sie sie in Reih und Glied auf eine Linie. Wusste, dass sie hinter ihr her waren. Es kostete sie viele Stunden, einen Aufsatz über ihre Begegnung mit der Realschule in Breiland zu schreiben. Ihre Gedanken waren voller Brüche, wie die Gletscher im Frühling. Bodenlos, wie die Moore rund um das Jugendheim auf der Insel.
Sie brachte den Aufsatz einigermaßen zuwege. Drei Seiten. Nicht mehr und nicht weniger. Sie versuchte nicht einmal, das Ganze durch Abschnitte und Zwischenräume in die Länge zu ziehen. Ließ es sein. Am letzten Schultag vor Ostern bekam sie ihn zurück. Mit der Note »ausreichend«. Sie starrte fast ungläubig auf die Note. Der Kommentar des Norwegischlehrers war gehässig. Aber er äußerte kein Misstrauen, was ihr Fehlen während der Osterprüfungen betraf. Tora verbesserte in der Pause die Rechtschreibfehler und lieferte den Aufsatz wieder ab.
Die Norwegischnote war »befriedigend«. Sonst sah das Zeugnis gut aus. Sie war glimpflich davongekommen. Sie wurde nicht zusammengestaucht, und es wurde auch keine Unterschrift von zu Hause verlangt.
Da musste sie auch nicht nach Hause fahren. Sie hatte sich bereits entschlossen. In der Nacht vor Schulschluss. Während sie im Bett lag und sich ausstreckte und spürte, dass der Schlaf sich immer mehr zurückzog, und das Tageslicht sich immer deutlicher an den Vorhängen abzeichnete und die Konturen der Möbel und Dinge im Zimmer sichtbarer werden ließ.
Sie fühlte sich beinahe glücklich. So leicht war es also. Sich zu entschließen. Für eine lange Zeit nicht mehr auf die Insel. Vielleicht nie mehr. Ihn nie mehr sehen! Nie mehr die steilen Treppen zu den Räumen im Tausendheim hinaufgehen. Nie mehr den merkwürdigen Geruch im Treppenhaus wahrnehmen. Nie mehr gezwungen sein, mit ihm an einem Tisch zu sitzen.
Sie würde Ingrid schreiben. Sagen, dass sie Ostern woandershin wollte. Auf eine Hütte. Zusammen mit Freunden. Freundinnen. Sonst würde es ihr wohl nicht erlaubt werden. Die Idee war ihr in der Schule gekommen. Viele wollten auf eine Hütte. Und sie wollten alle zu Hause sagen, dass sie mit Freundinnen hinwollten. Machten aus, sich gegenseitig zu decken, falls gefragt wurde. Kicherten nervös und fühlten sich sehr erwachsen.
Der Brief wurde kurz. Ohne Schnickschnack. Bat nicht um Geld. Sie brachte ihn sofort zur Post.
Die Erleichterung machte sie schwindlig. Sie saß lange auf einem Stahlrohrstuhl in der Post, nachdem sie den Brief abgeliefert hatte. Der Postbeamte sah sie ganz seltsam an, und sie bekam Angst, dass er fragen würde, ob sie krank sei. Diese Frage ertrug sie nicht.