In Sicherheit! Viele Stunden konnte sie hier mutterseelenallein sitzen, ohne dass jemand zu wissen brauchte, wo sie war.
Zehn Minuten nach vier schloss sie das Fenster, weil Frau Karlsen zu erwarten war. Die Vogelmutter kam nicht. Tora reckte sich nach allen Seiten, bevor sie das Fenster heranzog und die Haken einhängte. Die Bröckchen hatte sie hinaus in den Schnee gefegt. Sie waren gelbe Flecken da unten in all dem Weiß. Jeden Morgen waren sie fort. Sie hörte das Geschrei und Gekrächze der Krähen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Frau Karlsen entdecken würde, warum sich so gierige Vögel in der Nähe ihres Hauses aufhielten.
Tora schob den Gedanken von sich. Sie musste Kontakt zu der kleinen Vogelmutter bekommen. Erzählen, wohin sie das Junge gelegt hatte.
6
Rakel entschloss sich, nach Breiland zu fahren. Das komme so plötzlich, meinte Simon. Sie erklärte, dass sie Menschen sehen müsste, sonst würde sie ersticken. Alles sei so klein auf der Insel …
Ob das seine Schuld sei? Nein, versicherte sie ihm. Aber so leicht war er nicht zu überzeugen.
Schließlich musste sie mit der Sprache herausrücken, dass nämlich Ingrid ganz verzweifelt war, weil sie einen kurzen, kalten Brief von Tora bekommen hatte, in dem sie ihr mitteilte, dass sie Ostern nicht kommen werde, weil sie mit Freundinnen auf eine Hütte wolle.
Simon meinte, dass es doch prima sei, dass das Mädchen Freundinnen habe. Es sei doch wohl nicht schlimm, wenn sie Ostern nicht nach Hause komme. Rakel seufzte und gab ihm recht, aber sie bestand trotzdem darauf, nach Breiland zu fahren. Da könne sie nach Tora sehen. Ein bisschen allein sein. Ins Kino gehen. Sie habe Bauchweh, fügte sie hinzu. Da zog er den Kopf ein und sagte nichts mehr.
Rakel musste handeln, wenn die Gedanken sie plagten. Immer musste sie etwas tun. Sie war eben so.
Sie dachte darüber nach, was wohl der Grund für Toras Brief sein könnte. Ein Freund, von dem sie der Mutter nichts zu erzählen wagte? Nein, da hätte sie versucht, mit vielen Details, vielen Entschuldigungen eine Erklärung zu finden. Da hätte sie wahrscheinlich einen netten Brief mit überzeugenden Lügen geschrieben.
Simon brachte Rakel in dem kleinen Motorboot über den Fjord. Sie versprach, gleich nach ihrer Ankunft anzurufen. Stand da in ihrem neuen blauen Wollmantel, den sie beim letzten Besuch in Oslo gekauft hatte. Er war ein Schild gegen neugierige Augen, damit die Leute nicht ihren abgemagerten, kranken Körper sehen sollten, wenn sie in Været spazieren ging. Sie sollten nur nicken und sagen: Rakel Bekkejordet war in der Hauptstadt und hat sich einen neuen Mantel angeschafft …
Keiner sollte sehen, dass es eine Entschädigung für Schmerzen war.
Aber Simon wurde ganz weich bei ihrem Anblick. Er fuhr allein über den Fjord zurück und spürte immer noch ihren Duft. Mitten durch die salzige Gischt. Er drehte den Motor voll auf und stellte fest, dass er gut lief.
Der Bus fuhr um Millionen von Kurven und hielt ununterbrochen, so schien es Rakel. Sie hatte sich bereits überlegt, wie sie sich verhalten sollte, wenn sie nach Breiland kam. Sie wollte Frau Karlsen anrufen und nach Tora fragen. Dann wollte sie zu dem Haus gehen. Wenn niemand aufmachte, würde sie sich ein Hotelzimmer nehmen und das Weitere überdenken.
Es war grau in Breiland. Rakel hatte sich ein für alle Mal eine Meinung darüber gebildet. Seit sie erfahren hatte, dass sie zu Tests und Untersuchungen nach Breiland musste. Das war schon lange her. Trotzdem war der Grauton da. Ein für alle Mal. Sie brachte es nicht über sich, diesen Eindruck zu revidieren.
Der Ton im Telefon war auch grau. Es klingelte in einem Raum, den sie nicht sehen konnte. Niemand hob ab. Sie hatte es im Voraus gewusst. Sie knöpfte den Mantel zu, nahm die Reisetasche vom Boden auf und dankte der Verkäuferin dafür, dass sie das Telefon hatte benutzen dürfen.
Ging geradewegs hinaus in den bleigrauen Tag.
Das Haus fand sie leicht. Wusste ungefähr, wo es war. Es brannte Licht im Flur und in der ersten Etage. Ein gelber, ängstlicher Schein, der über alten Schnee floss. Da oben waren die Jalousien heruntergezogen. Ein Schild über der Messingklingel. Herrschaftlich. Trotz aller Kümmernisse konnte Rakel sich ein solches Schild in Bekkejordet vorstellen. An der Haustür: Simon und Rakel Bekkejordet. Nur um zu irritieren und zu verwirren. Und weil es ihr gefiel. Und weil es einfacher so wäre. Dazu dann die Klingel. Sie musste beinahe lachen.
Niemand öffnete. Sie zog einen Handschuh aus und benutzte den nackten Zeigefinger. Als ob das helfen würde. Ein Ritual, um die Menschen herbeizuzaubern. Sie spürte, wie das Geräusch sich von ihrer Fingerkuppe bis in das Haus fortpflanzte. Bis zu dem Zimmer, in dem Tora war. Ein Ruf, eine Ankündigung, dass sie, Rakel, gekommen war. Aber das Haus antwortete mit beleidigter Stille. Verwunschen und verschlossen.
Eine Bewegung da oben? Sie war sich nicht sicher. Sie klopfte laut an die Tür. Tat kund, dass sie sich nicht ohne weiteres zufriedengeben würde. Aber es geschah nichts. Sie überlegte, dass Tora vielleicht eine gewisse Zeit brauchte, um sich vorzubereiten. Nahm einen Bleistift aus der Handtasche und riss eine Seite aus dem Notizbuch heraus. Dann schrieb sie, dass sie da gewesen sei und wiederkommen werde. Schob den Zettel in den Türspalt und wandte sich zum Gehen.
Als sie ein letztes Mal hinaufsah, bemerkte sie einen Schatten am Fenster. Die Jalousie schnellte hoch. Sie glaubte, den scharfen Knall zu hören.
Tora stand wie ein gekreuzigter Schatten da. Die Sprossen im Fenster waren echt genug. Ein Kreuz. Rakel hob die Hand. Versuchte zu lächeln. Das Fenster wurde langsam nach außen aufgestoßen. Toras rotes Haar erschien in der Fensteröffnung. Rakel wusste nicht, was sie erwartet hatte.
Vielleicht ein Lächeln? Eine Entschuldigung? Ein kleines Hallo?
Aber nichts von alledem. Es war, als ob Tora sie nie gesehen hätte. Als ob sie einen zufälligen Hausierer betrachtete und wünschte, dass er seinen Spruch aufsagte und dann wieder ging.
»Hallo! Ich hab schon geglaubt, dass niemand zu Haus ist. Kann ich raufkommen?«
Es war immer noch kein Laut aus dem offenen Fenster zu vernehmen.
Der Kopf verschwand, das Fenster wurde geschlossen. Einen Augenblick stand Rakel mit einer verwirrenden Lawine von Gedanken da. Einer davon war, dass Tora ihr wohl nicht öffnen würde. Aber kurz darauf hörte sie von drinnen Schritte, und der Schlüssel wurde umgedreht.
Der Mensch in der Tür war Tora. Und war nicht Tora. Rakel blieb auf der Treppe stehen. Ihre Augen fuhren blitzartig über das junge Mädchen. Dann blickte sie verlegen zur Seite. Hatte das Gefühl, durch ein Schlüsselloch geschaut zu haben.
Das dichte Haar hing in Strähnen über die Schultern. Das Gesicht wirkte verlebt und war entsetzlich bleich. Die Augen sahen sie an, ohne zu sehen. Derselbe graue Pullover, den sie schon Weihnachten angehabt hatte. Aber der Babyspeck, die runden Formen, die Frische – die waren verschwunden. Sie konnte diesen Menschen nur mit abgrundtiefem Unglück in Verbindung bringen.
Aber natürlich. Dieser Mensch hatte den Brief an Ingrid geschrieben.
Rakel wartete nicht länger, dass Tora etwas sagen würde, sie folgte ihr einfach die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Blieb an der Tür stehen. Schweigend. Betrachtete eingehend die triste, schwere Tapete, das schmale, altmodische Bett, die dunklen Vorhänge, das Licht der Straßenlaternen, das frech durch die hohen, kahlen Fenster hereinbrach. Den Fleck auf der Wand, wo einmal ein Bild gehangen hatte, die Wachstuchdecke mit den grellen Blumen. Die großen, alten Sessel und die Plüschdecke auf dem runden Tisch. Alles hatte bessere Tage gesehen, lange vor Toras Geburt.
Rakel hängte ihren Mantel in den Gang, schlüpfte aus den Stiefeln, rieb sich die Hände, während sie zum Ofen ging.
»Es ist schön warm hier«, sagte sie und verschwand fast in einem der Sessel. Tora setzte sich auf die äußerste Kante des Schreibtischstuhls.