Der taube Himmel. Herbjørg Wassmo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Herbjørg Wassmo
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783867548700
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zog sie vorsichtig die Jalousien herunter. Der Raum wurde gelb, wie gewöhnlich. Es war jedes Mal so, wenn sie die Jalousien herunterzog. Jetzt fand sie einen gewissen Trost darin.

      Sie schloss die Tür zu und zog sich langsam aus. Die Mütze und der Schal, die sie sich in den Schritt gelegt hatte, zeigten alle nur möglichen Schattierungen in Rot. Sie stand zögernd damit vor der offenen Ofentür. Dann legte sie sie schnell in die Flammen. Das Feuer kam gleichsam aus dem Ofen heraus und über sie. Brannte ihr im Gesicht, wurde in ihren Kopf hineingesaugt. Der Kopf weitete sich zu einem Ballon und schwamm im Zimmer herum, mit allem in sich.

      Und alles war in dem gelben Licht. Das sich immer im Kreis bewegte.

      Tora legte sich ins Bett und dachte an Frau Karlsens Mann, der tot war. Er lag steif und still in dem Altersheim, in dem er mehrere Jahre gewohnt hatte. Er hätte der alte Vater von Frau Karlsen sein können, dachte Tora. Oder – vielleicht war es das offene Grab, das sie so erschreckt hatte, dass sie nicht gewagt hatte, die Leiter hinunterzusteigen und das kleine Loch zu graben, um das Bündel zu verstecken?

      Das Bündel? Das Vogeljunge? Das aus ihr herausgeglitten war, als sie auf der Wachstuchdecke vor dem Bett lag und sich in Stücke reißen ließ. Aber das Bett hatte sie gerettet. Es war genauso sauber und ordentlich, wie es immer gewesen war. Und die alte Wachstuchdecke existierte nicht mehr. Die Flammen hatten sie verzehrt. Sie hatte im Bauch des Ofens gejammert, lange.

      Das Grab – oder Frau Karlsens Mann – hatte sie gezwungen, das kleine Bündel in die Geröllhalde zu legen und Steine darüber zu rollen. Und sie hatte vergessen, die Leiter wieder an ihren Platz zu hängen! Hatte solche Angst vor dem offenen Grab gehabt.

      Der Totengräber von Breiland watete bis zu den Waden im nassen Schnee und sah so aus, als ob er wenig von den Sommerplänen des Herrn begriff. Vermutlich hatte er Regen erwartet, denn er hatte das frisch ausgehobene Direktoren-Grab nicht zugedeckt. Und jetzt konnte man sich gut vorstellen, dass der Schnee da unten in der Tiefe einen ruhigen Platz gefunden hatte. Ansonsten hatten sich die Leute angestrengt, an diesem verflixt kalten Ende eines langen Winters am Leben zu bleiben.

      So eine Idee konnte auch nur ein Totengräber an einem solchen Außenposten haben, dass nämlich der Frühling zeitig kommen würde. Aber das Leben war nicht immer einfach. Er blieb stehen und betrachtete die alten Haken an der weißen Wand des Geräteschuppens. Leer. Die Leiter war weg! So weit entfernt von Haus und Hof brauchte doch wohl kein Mensch eine Leiter?

      Der Totengräber starrte den Neuschnee an, als ob er glaubte, dass die Leiter über den Boden geflogen sei, ohne eine Spur zu hinterlassen. Er war kein ängstlicher Mann – bei Tageslicht. Und so viel wussten alle: dass es einer Leiter unmöglich war, sich von allein zu bewegen! Er wischte sich übers Kinn und schüttelte seinen wuchtigen, windgepeitschten Körper. Eine Bewegung, die eine Art verwirrte Einsamkeit widerspiegelte.

      Dann ließ er den Blick über den Friedhof schweifen. Als ob er den Wind für den Entführer hielte. Blinzelnde Augen in dem leicht nebligen Licht. Zögernd ging er zu dem offenen Grab, als sein Fuß auf einmal gegen etwas Hartes und Unfreundliches stieß, das ihn beinahe zu Fall gebracht hätte. Er heftete schließlich den Blick auf die quadratischen Erhöhungen unter ihm im Neuschnee. Die Leiter. Er trat dagegen, so dass die Eiskruste abfiel und das weiße Holz zum Vorschein kam. Er lud sich die Leiter auf die Schulter und schielte stirnrunzelnd in das Grab, als ob er zu sich selbst sagte: »Dieser Bursche geht da nicht hinunter, und wenn es bis zum Rand hinauf schneit. Es bleibt allemal Platz für einen abgemagerten Alten und seinen Sarg.«

      Der Totengräber hängte die Leiter an ihren Platz und schob sich einen Priem unter die Oberlippe. Dann trottete er zum Gemeindehaus und in die Kaffeestube. Die Männer bekamen die Geschichte von der Leiter erzählt. Sie wechselten Blicke und sagten nichts. Sie hatten schon häufiger vom Totengräber Gespenstergeschichten gehört. Wussten, wie sehr sie ihn durch höhnische Worte verletzen konnten, deshalb schwiegen sie. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um einen windschiefen alten Totengräber zu demütigen. Zwei Zwangsauktionen standen bevor, außerdem waren Milch und Butter teurer geworden. Zehn Öre pro Liter und eine Krone und fünfundzwanzig Öre pro Kilo.

      Von nun an würde er sein Brot ohne Butter und Milch herunterwürgen müssen, bei dem Lohn, den so ein armer Kerl bekam. Allein davon konnte man schon eine Gänsehaut kriegen.

      2

      Die Geräusche kamen durch Schichten von Wirklichkeit zu ihr. Ein Klopfgeräusch? Der Schmerz einer verrenkten Schulter. Schaler Geschmack von altem Durst. Ein Gefühl, dass jemand sie anfasste. Oder die Tür?

      Tora schlug die Augen auf. Die Türklinke bewegte sich langsam nach unten und wieder rauf. Dann stand sie still, und ein vorsichtiges Klopfen erfüllte ihren Kopf mit einem ohrenbetäubenden Lärm.

      Sie versuchte sich umzusehen. Die offene Ofentür, aus der keine Wärme mehr kam. Der muffige Geruch. Die Steppdecke halb unter dem Bett. Der Flickenteppich. Wo war der Flickenteppich?

      »Biste zu Haus, Tora?«

      Die Stimme war deutlich. Als ob sie aus ihr selbst käme.

      Sie holte tief Luft, während sie versuchte, die Zunge zu bewegen und das Gehirn zum Funktionieren zu bringen. Aber es ging nicht. Die Stille lag wie eine Mauer zwischen der Tür und ihr.

      »Ich hab dir was zu essen gemacht, wenn du überhaupt was magst.«

      Frau Karlsens Stimme hallte wie ein vorwurfsvolles Echo aus allen Ecken wider.

      »Es geht mir nicht gut, wissen Sie …«

      Ihre Stimme trug. Erstaunlich. Sie kroch über den Boden und legte sich Frau Karlsen zu Füßen. Demütig.

      Die Klinke bewegte sich wieder nach unten.

      »Willste nicht aufschließen, damit ich nach dir sehen kann? Haste Fieber?«

      »Nein, ich möcht mich nur ein kleines bisschen ausruhn.«

      »Ja, aber willste nicht, dass ich dir was zu essen bring?«

      »Nein, ich hab keinen Hunger … Vielen Dank!«

      »Na gut.«

      Die Stimme auf dem Flur wurde verschlossen und mürrisch. Aber sie nahm die ganze Frau Karlsen die Treppe mit hinunter. Die Stille tat so gut. So gut.

      Sie öffnete mit Mühe das vereiste Fenster und atmete den Abend in langen Zügen ein.

      Die Bewegungen waren langsam und lautlos.

      Am nächsten Morgen ließ sie Frau Karlsen zu sich herein.

      Frau Karlsen stand mit dem Tablett in den Händen in der offenen Tür und war ein Mensch. Nicht mehr und nicht weniger.

      »Du bist krank«, stellte Frau Karlsen ohne zu zögern fest. Die Stimme war trocken und sicher und ohne Misstrauen. Tora konnte aufatmen. Kaffeeduft und Frühstück. Frau Karlsen hatte den Kaffeekessel unten aus der Küche mitgebracht und ließ ihn auf einem dicken schwarz-rot karierten Topflappen neben dem Bett stehen. Sie hätte gerne mit Tora zusammen Kaffee getrunken, aber es war so viel zu tun.

      Außerdem hatte sie ein wenig Angst, sich anzustecken. Ja, Tora solle das nicht missverstehen, aber sie könne sich bei der Beerdigung doch nicht krank ins Bett legen.

      »Du hast ’nen Brief bekommen. Und ich hab auch die Zeitung mitgebracht«, sagte sie und las mit feierlicher Stimme vor: »Mordtragödie in Hollywood. Die vierzehnjährige Cheryl erstach den Gangster, der das Leben ihrer Mutter Lana Turner bedrohte! Fürchterlich, was die Jugend in Hollywood alles anstellt. Ja, sie ist nicht viel jünger als du. Du kannst froh sein, dass du in friedlicheren Verhältnissen lebst. Das muss ich schon sagen.«

      Am Rand des Tabletts lag Ingrids Brief.

      »Haste Fieber? Das kommt davon, dass du immer halbnackt gehst. Auch wenn man jung ist, kann man doch nicht nackt draußen rumlaufen. Es ist noch nicht Frühling, das weißte doch. Es ist eiskalt. Bleib nur ruhig liegen! Du gehst heut auch nicht in die Schule! Ich werd anrufen und sagen, dass du krank bist!«, erklärte sie schon in der Tür – und war weg.

      Ingrid