„Alles klar.“
Ich schleiche ins leere Nachbarbüro und setze mich ans Telefon. Beim ersten Namen auf der Liste geht niemand ran. Beim zweiten meldet sich eine Frau mit rauer, versoffener Stimme und erklärt mir, dass sie vor dem Dienstantritt erst noch ihre Katze Schröder zum Tierarzt in die Altstadt bringen müsse, da er einen Miniatur-Obelix aus einem Ü-Ei verschluckt habe und seitdem pausenlos auf die Fliesen kotze. Zum Glück seien es nur Fliesen, die könne man ja abwischen, betont sie. Als sie beginnt, mir die Dos und Dont‘s der Katzenkloreinigung zu erläutern, wimmle ich sie mit „Ich bin eher so der Hundemensch“ ab und verabschiede mich. Bei Nummer drei begrüßt mich eine pseudowitzige Mailboxansage: „Heeeeeey joooooo, wer stört? Ich bin gerade nicht am Start, also leave a message nach dem Toooon!“ Hinter dem vierten Namen verbirgt sich eine weiche Männerstimme. Nachdem ich meinen Text um das Meeting vor dem Dienstantritt heruntergebetet habe, kommen wir ins Gespräch.
„Tschuldigung, wenn ich so doof frage, aber kennen wir uns?“ Ich kann mir zu der Stimme so gar kein Gesicht vorstellen.
„Wir kennen uns nicht, weil sich unsere Schichten überschneiden. Wenn ich gerade gegangen bin, kommen Sie. Ich bin die neue Praktikantin.“
„Sie? Ben heiße ich.“ Er lacht. Ich mag seine Lache, sie ist weich und angenehm. Nicht so aufdringlich wie die vom Mr.-Bean-Verschnitt Herrn Deit.
„Okay, Ben. Dana.“
„Wie gefällt es dir bei uns?“
„Gut, gut.“
„Mit wem arbeitest du?“
„Jolie.“
„Uh, Glück gehabt.“
„Was soll das denn heißen?“, kichere ich, und er stimmt ein.
„Schon mal gesehen, wie sich Frau Rein vor dem Telefon aufstellt?“
„Oh ja!“
„Dann sei mal froh, nicht bei der gelandet zu sein!“
Noch einige Minuten berichtet er mir vom Treiben in der Nachtschicht, wie locker alle seien. Nur das Arbeiten an den Samstagen gefalle ihm nicht sonderlich, das ließe sich schlecht mit seinem Freizeitprogramm vereinbaren.
„Ich würde ja gerne weiterquatschen, aber wenn ich nicht langsam zurück zu Jolie gehe, sucht sie mich bestimmt bald.“
„Ja, klar. Wäre schön, wenn man sich vielleicht doch mal über den Weg läuft.“
„Ja, das wäre es.“
„Mach‘s gut.“
„Du auch. Ciao.“
Als ich mich von dem Bürostuhl schwinge, ist mir ein wenig flau im Magen. Netter Typ. Beim Überqueren des Flurs fällt mir zum ersten Mal ein großes gerahmtes Bild auf. Betriebsausflug ins Schokoladenmuseum steht in roten Lettern darunter.
„Wir haben jetzt Pause … uh, schlimmes Foto“, stößt Jolie hinzu.
„Wer ist das?“, deute ich mit dem Finger auf einen Schönling in der ersten Reihe. Er sieht aus wie Brian von den Backstreet Boys. Schön anzusehen, aber wer will schon neben so jemandem aufwachen? Da muss man mindestens eine Stunde früher aufstehen, sich pudern, schminken, die Locken legen, sich mit betörendem Parfüm besprühen und in Formschön-Unterwäsche schmeißen, um sich nicht völlig hässlich vorzukommen, wenn er dann die Augen aufschlägt und einen mit seinem makellosen Boybandgesicht ansieht. Zu schön ist eben auch nicht gut.
„Max.“
„Und der?“ Ich deute auf einen kleinen Mann in der ersten Reihe.
„Peter.“
„Und der?“ Mein Finger klebt auf einem großen Typen in der hinteren Reihe.
„Mann, du bist ja neugierig“, meint sie grinsend. „Ben! Lass uns zum Bäcker ums Eck gehen.“
Und schon rauscht sie davon.
Ich bleibe noch einige Sekunden stehen und betrachte ihn. Er scheint überdurchschnittlich groß, sein Gesicht thront ein gutes Stück über all den anderen. Er grinst breit von einer Backe zur anderen. Auf einer seiner ausladenden Schultern hängt lässig der Träger eines Rucksacks. Das schwarze Shirt flattert ein wenig zu groß an ihm herunter.
„Kommst du?“, schallt Jolies Stimme vom Treppensims herüber, und ich folge.
Die Bäckerei ist klein, die warme Luft stagniert, und an der Scheibe tummeln sich einige verirrte Bienen. Jolie zuckt jedes Mal, wenn eine in ihre Richtung fliegt. Sie ist so hübsch, es ist beinahe unsympathisch. Neben ihr wollte ich noch weniger aufwachen als neben Brian von den Backstreet Boys. Wie eine Barbiepuppe sitzt sie perfekt drapiert da, erzählt von ihrem lässigen Fußballerfreund und ihrem Gebrauchtwagen mit extraflauschigen Sitzbezügen.
Als ich heimkomme, wartet meine beste Freundin Carmen schon vor der Haustür. Wie immer, wenn ich sie nach der Frühschicht antreffe, trägt sie ein übergroßes weißes Shirt, das heute Morgen wahrscheinlich noch gestrahlt hat, aber jetzt mit allerlei Krankenhaussekreten besprenkelt ist. Die weiße Hose ist genauso schmuddelig. Die braun gefärbten Korkenzieherlocken hat sie zu einem strengen Dutt gebunden, die blassen Ohrläppchen baumeln schmucklos herum. Sie sieht immer ein bisschen kränklich aus, so ganz ohne Schminke, mit den hellblauen Augen und der schneeweißen Haut. „Hat Mama dich nicht reingelassen?“, frage ich, während ich ihr einen Kuss auf die Wange drücke und die Tür aufschließe.
„Ihr habt ja keine Klingel, ihr Hinterweltler!“
„Das hat uns schon jede Menge Sternensänger, Vorwerkvertreter, Klingel-Missionare und anderes Gesindel erspart.“
Wir hinterlassen unsere Schuhe wild verteilt auf dem roten Teppich am Eingang und gehen direkt rüber in mein Zimmer. Es sieht schrecklich aus, überall ist Kleidung und Papiermüll verteilt, doch vor Carmen muss ich mich zum Glück für nichts schämen. Sie rupft sich das Pflegekraft in Ausbildung, Carmen Rotblatt-Schild von der Brust und lässt sich auf meine Couch sinken.
„Ich hab Sachen zum Cocktailsmixen mitgebracht“, verkündet sie und verteilt einige Limetten, ein Paket mit braunen Brocken Zucker und eine Flasche Schnaps auf der Couch. Ich steuere einige Säfte und ein Brett bei, auf dem sie die grünen Früchte liebevoll in Scheiben schneidet.
„Ich hab eine Idee!“, verkündet Carmen, nachdem sie das Ganze in zwei extragroße Gläser mit Zuckerrand verfrachtet hat. „Ich bin auf einer Internetplattform für Singles angemeldet.“
Ich stöhne genervt, denn ich weiß, was als Nächstes kommt.
„Und ich dachte“, sie beugt sich herüber zu mir und legt ihren Kopf spielerisch auf meine Schulter, wie ein kleines Mädchen bei seiner Lieblingskindergärtnerin, „… wir nehmen die Baustelle mal so richtig in Angriff.“
„Hast du mein Liebesleben gerade mit einer Baustelle verglichen?“
Sie richtet sich wieder auf.
„Ja, aber so eine, auf der das Geld knapp geworden ist. Es spielen zwar noch ein paar Nachbarskinder im Schutt, aber sonst tut sich da nix mehr! Du meldest dich da einfach an, triffst dich vielleicht mit wem, und wenn nicht, dann eben nicht.“
„Da sind doch eh nur arme Schweine und Freaks!“
„Na, danke.“
„So war das nicht gemeint.“
„Komm schon.“
„Naaa gut“, gebe ich mich geschlagen, denn ich weiß: Sie wird eh nicht aufhören zu nerven, bevor sie ihren Masterplan durchgesetzt hat. Freudig springt sie von der Couch und holt meinen Laptop. Das blaue Design der Seite brennt in meinen Augen, und der billige Elektro aus dem chateigenen Internetradio, in dem ein Typ namens Kenny mit penetrant greller Stimme immer wieder Grußnachrichten à la Mandy grüßt ihren