„Warum schreibst du mir?“, raunt mich Johannes an, der auf dem Bett sitzt und ebenfalls über seinem Handy hängt. Sein Gesicht ist auffällig gerötet.
„Hä? Ich schreib dir nicht“, antworte ich und krame in meinem Rucksack, als ich mit leichter Verunsicherung bemerke, wie mir sein Blick durchs Zimmer folgt.
„Doch klar. Jetzt gerade!“
„Nein.“
„Doch! Zwischenbericht …“ Prompt schießt mir das Blut in den Kopf, noch bevor Johannes fertig rezitiert hat. Ich muss beim Absenden der SMS nicht richtig hingeguckt haben. Das boom, boom, boom in meiner Brust ist wieder da, nur lauter und aggressiver.
„Ööhh“, kommt es so aus mir raus. Was soll ich nun noch sagen? „Die war eigentlich nicht für dich bestimmt, sondern für meine beste Freundin, mit der ich immer Späße über heute gemacht habe.“
Ein Lachen macht sich in Johannes’ Gesicht breit, doch beschleicht mich das ungute Gefühl, dass es eher ein abfälliges Über-mich-, als ein lockeres Mit-mir-Lachen ist.
„Bin ich dir zu langsam? Sollte ich dich lieber anspringen und dir die Kleider vom Leib reißen?“
„Nein, äh …“, stammele ich vor mich hin. Es ist zu spät. Das Zeitfenster, in dem aus dem Ganzen ein positiv-witziger Moment hätte werden können, hat sich geschlossen, und nun sitzen nur noch zwei Fremde in einem kleinen vollgestopften Zimmer nebeneinander, wissend, dass sie einander nach diesem Treffen zwar nie wiedersehen wollen, dank der nächtlichen Regionalbahnpause aber noch die Nacht miteinander verbringen müssen. Noch einige Minuten unterhalten wir uns über Kram, der belangloser als das Wetter ist, er beäugt mich und sieht dabei ein wenig wütend aus. Bald eröffnet er mir auch, dass wir im selben Bett schlafen müssen, da die Couch ja nun aus geschmolzenem Polster und Biermief besteht. Na, Jackpot. Ohne weitere Unterhaltungen betten wir uns nebeneinander in Johannes’ quietschende Ikeakonstruktion, so weit voneinander weg, wie es möglich ist, und schon ist er eingeschlafen. Ich liege noch Stunden wach, lausche seinem Atem und hasse mich selbst für das Fettnäpfchen, in das ich heute mit Anlauf gesprungen bin. Hin und wieder berühren sich unsere Knie, er spricht im Schlaf, und ich muss fast darüber lachen, wie sehr sich diese Situation von meinen romantischen Erwartungen unterscheidet.
Am nächsten Morgen steht er auf und zieht sich im Halbdunkel um. Als er mich noch kurz betrachtet, presse ich die Augen zu, tue, als ob ich schlafe, um den Abschiedsfloskeln zu entgehen. Dann verlässt er die Wohnung in Richtung Uni. „Kannst ja dann einfach noch ein bisschen weiterschlafen, im Kühlschrank ist provisorisches Frühstück, und wenn du gehst, zieh bitte die Wohnungstür richtig zu“, sagt er noch.
Ich verzichte auf das Frühstück, will ich doch dem Frettchengesicht nach Möglichkeit nicht über den Weg laufen. Im Bad setze ich eine Mütze auf, die das Elend auf meinem Kopf verdeckt. Ein bisschen Seife und Creme, und mein Gesicht sieht gar nicht mehr so furchtbar müde aus. Als ich zurück in sein Zimmer komme, um meine Tasche zu holen, werfe ich noch kurz einen Blick auf seine Gitarre, die in der Ecke steht. Sie sieht alt und verschlissen aus, ist mit Mad-Caddies-Stickern überzogen.
Rein theoretisch liegt der Bahnhof nicht mal einen Kilometer von Johannes’ Wohnung entfernt, doch so im morgendlichen Nebel, mit der Scham über den SMS-Fauxpas, wird die Stadt zu einem einzigen Labyrinth aus Nebenstraßen, irreführenden Schildern und Fußgängern, die selbst nicht so recht zu wissen scheinen, wo sie sich gerade befinden. Als ich endlich die Innenstadt erreiche, haben die Marktleute schon ihre Stände aufgebaut. Es riecht wie in einem übergroßen, dreckigen Kühlschrank, in dem sich auf altem Käse, stinkendem Fisch und China-Plastik Kulturen bilden. Ein älterer, dunkelhaariger Typ pfeift mir hinterher, und ich habe Lust, umzudrehen, mit Anlauf auf ihn zuzurennen, ihn umzustoßen und mich dreckig lachend auf sein Gesicht zu setzen.
Ich schlage noch etwas Zeit in der mehrstöckigen Buchhandlung an der Ecke tot, kaufe mir eine sündhaft teure Johnny-Cash-Biografie, doch das tröstet auch nicht.
Als ich wieder auf die Einkaufsmeile trete, höre ich zwei Läden weiter eine Tattoomaschine surren. Kurz überlege ich, spontan reinzuspringen und mir ein neues Tattoo stechen zu lassen. Obwohl, stechen nennt man das ja nicht mehr, hacken sagt die moderne Arschgeweih-und-Sternchen-Fraktion heute dazu. Ein Ufo, ein Glücksbärchi oder ein qualmender Hundehaufen. Irgendwas Selbstironisches. Aber so ein Frust-Tattoo macht auf Dauer wahrscheinlich auch nicht glücklich.
Die Regionalbahn lässt auf sich warten, aber irgendwann zieht die Welt dann doch durch das zerkratzte Zugfenster an mir vorüber. All die Städte, wie Bilder aus einem hässlichen Bilderbuch. Menschen, wie schlecht bemalte Miniaturpüppchen, die man mit einem Schnipser von Daumen und Zeigefinger kilometerweit fliegen lassen könnte.
Kapitel II
„Sollten wieder Herzen schnitzen –
wenn du noch Holz findest, Baby.“
Pascal Finkenauer
Ich trage einen beigen Rock, dazu eine braune Bluse und komme mir tierisch seriös vor, als ich die Treppe zum Büro erklimme. Jolie, die bildschöne Französin, die mir die Praktikumsstelle besorgt hat, wartet bereits auf mich.
„Schön, dass du da bist. Willkommen!“, begrüßt sie mich herzlich und zieht mich in eine enge Umarmung.
„Vielen Dank“, lächle ich freundlich.
„Ich kümmere mich die kommenden 14 Tage um dich. Du begleitest mich einfach, greifst mir ein bisschen unter die Arme, und ich erkläre dir so das eine oder andere“, erklärt sie und drückt ihre Kippe unter einer ihrer braunen Sandalen aus. Dabei wackeln ihre großen roten Perlenohrringe wild neben ihrem Gesicht.
„Super!“
Ich folge ihr ins Haus. Alle Büroräume sind von oben bis unten mit blauem Teppich betackert, was dem Ganzen den Flair eines christlichen Kindergartens gibt. Ich bekomme meinen eigenen Schreibtisch, gegenüber von Herrn Deits Platz. Herr Deit sitzt im Rollstuhl, sieht aus wie Mr. Bean, und ich scheine ihn ein wenig nervös zu machen. Immer wenn ich hochsehe, starrt er an seinem Desktop vorbei zu mir herüber und zuckt vor Schreck zusammen, wenn ich zurückstarre.
Die Chefin ist klein und sieht aus wie ein Serienstar aus den Achtzigern. Passend zu ihrem Vokuhila trägt sie an jeder Hand mindestens drei goldene Ringe und lange blaue Gelfingernägel. In der Kippenpause begutachte ich die Miniatursterne aus Glitzersteinen, die darauf aufgeklebt sind. Die Pfennigabsätze ihrer Schuhe kündigen sie an, wann immer sie den Gang hinunterschreitet, und das trotz Kindergartenteppich. Ich schätze, sie sind nicht bloß ein modisches Accessoir, sondern Mittel zum Zweck, denn ohne sie könnte Frau Rein wahrscheinlich nur knapp über die Tischkante ihres Schreibtischs sehen.
Sie hat den Laden im Griff. Obwohl sie im Grunde sehr nett zu sein scheint, kuschen alle vor ihr und begegnen ihr mit Ehrfurcht. Ihre Bürotür steht immer offen, und so hören alle, wie sie regelmäßig hitzig diskutiert. Dabei schaltet sie immer den Lautsprecher ein und schreit aus dem Stand in das Telefon.
Jolie scheint keinen besonders harten Job zu machen, sie tippt hin und wieder eine E-Mail, führt Telefonate und geht im Zwanzigminutentakt nach draußen, um zu rauchen. Der Betrieb stellt Trainingsgeräte für Sportler mit körperlicher Behinderung her und liefert sie in schicken lila Vans. Es arbeiten viele Rollstuhlfahrer und anderweitig behinderte Menschen im Bürotrakt. Integrationsbetrieb nennt sich so etwas, erklärt man mir. Das Ganze scheint zumindest mittelmäßig erfolgreich zu sein, es wird in Schichten gearbeitet, einen Großteil der Belegschaft lerne ich deswegen nicht kennen. Wenn ich mein tägliches Pensum an Abtipparbeiten erledigt habe, gehe ich ins zweite Obergeschoss zu Jolie. Sie teilt sich ein kleines Büro mit einem Spanier namens Juan. Juan ist eigentlich ein hübsches Kerlchen, doch kann er niemandem ins Gesicht sehen, was ihn zu einem verklemmten Zeitgenossen macht.
„Kannst