Religiosität und Spiritualität lassen sich als Begriffe zwar sinnvoll auseinanderdividieren, zum Beispiel dahingehend, dass das Religiöse den ausgeformten, tradierten Kult bezeichne, während Spiritualität den individuellen Bezug meine – beide jedoch dienen (hier ganz wertfrei gesehen) dem Erklären der Welt: jener Teile, deren der Verstand, wenn er sich auch noch so bemüht, nicht Herr wird. Selbst eher Kind der Aufklärung als religiöser Glaubenssätze, habe ich mich, ohne diese Wurzeln geringschätzen oder gar kappen zu müssen, vom rationalistischen Dogma der Herrschaft des Verstandes längst verabschiedet. Das bedeutet nicht, ihn mit dem Opfermet ausschütten zu müssen. Meinem Verstand (den ich gern benutze – ich lasse ihn sogar trainieren und verschiedentlichen Sport treiben: in Debatten, beim Philosophieren oder beim kritischen Aufdröseln von Nachrichten einschließlich der Frage, warum ich diese Nachrichten bekomme und nicht andere) habe ich lediglich einen Platz zugewiesen, wo er mir dienen kann, anstatt mich zu tyrannisieren. Achtung, nur bedingt zur Nachahmung empfohlen: Es kann sein, dass sich dieserart keine Karriere machen lässt (da ich nie wirklich eine anstrebte, weiß ich nicht, was unabdingbar dafür wäre)! Es macht wesentlich glücklicher, im Zweifelsfall dem Ruf des Herzens zu folgen. Was nicht heißt, dass das besonders leicht ginge oder verlustfrei. Möglicherweise ist es hier und da sogar schmerzhafter. Dafür tragen die möglichen Höhenflüge tatsächlich bis in Bereiche, wo sich deine Persönlichkeit anfängt zu verändern. Kein Muss: Es kommt nur darauf an, was du anstrebst und zulässt. Dort aber geht es bis zur Bewusstseinserweiterung. Darunter verstehe ich, mir des eigenen Bewusstseins so intensiv bewusst zu werden, dass ich den Atem der Großen spüre: weil ich der Auffassung bin, dass das Bewusstsein von ihnen kommt. In gewisser Weise sind sie es selbst, verstehst du?
Was die schöne Ansuz so ganz nebenbei – für mich – zur idealen Schutzrune macht: Wer oder was könnte mich besser schützen als das Vertrauen in diejenigen Großen, mit denen ich im Bunde bin? Woran auch immer du glaubst, Mensch: Du brauchst das Vertrauen, dass sich dein Vorhaben irgendwie ausgeht, dass es gutgehen wird. Wo das fehlt, hast du Angst. Was ist Angst? Gefühlte Götterferne! Du meinst dann, alles aus eigener Kraft bewältigen zu müssen, und was ist aber, wenn… dies und das schiefgeht? Es geht keineswegs nur ängstlichen Menschen so, dass auf einen kleinen Zweifel hin plötzlich eine Angst sich auf die nächste türmt – und das eigentlich unproblematische Vorhaben zunehmend zur Unmöglichkeit gerät. Gib dich den Ängsten hin, dann wird mit der Zeit aus der gefühlten Götterferne tatsächlich Pech: die Abwesenheit von Segen. Wenn ein Missgeschick zum nächsten führt bis zur womöglichen FeNäKe (Fettnäpfchen-Kettenreaktion): peinlich für alle Betroffenen (außer für zu viele amtierende BerufspolitikerInnen, aber bleiben wir bei halbwegs appetitlichen Themen)… Ein pragmatisch gutes Mittel gegen Ängste ist, sie in kleinere zu zerschneiden: Die meisten sind ohnehin nur Aufbauschungen, die aus lauter Bewältigbarkeiten bestehen – wenn sie erst wieder auseinandergedröselt sind. Hier kann ein kritisch-beherzter Verstand gute Dienste leisten! Der nächste Schritt wäre dann, das Vertrauen zurückzugewinnen ins eigene Geschick. Das geht wiederum spirituell am besten. Mach dir klar, dass dein Geist nicht alleine ist – sondern Teil von etwas viel Größerem. Dein Geist ist mit dem deiner Großen verbunden – wer immer sie sind für dich. Was denkst du, woher du ihn hast? Was meint dein Wasserglas, woher es so halbvoll, halbleer oder wenigstens nass sei? Erzähl ihm mal die Geschichte vom Ozean oder wenigstens die vom Wasserhahn… Was immer du je verspürtest an Göttlichkeit – es ist da. So, wie die Sonne auch dann vorhanden ist, wenn Wolken sie verbergen – oder wüstes Wetter den Eindruck erweckt, es hätte nie einen Sonnentag gegeben. In Wirklichkeit gäbe es das Wetter gar nicht ohne den Glutball, den wir umkreisen, den Stern unseres Planetensystems: unsere liebe Sonne. Sie ist nur gerade nicht zu sehen. Das, was von ihr zu sehen ist, wenn sie sich zeigt, ist nur ihr geringster Teil. Aber wissen wir nicht mehr über sie, fühlen wir nicht mehr von ihr? Für die übrigen Göttinnen und Götter und großen Wesenheiten gilt dasselbe.
Womit wir wieder bei der Rune wären: derjenigen, die überhaupt Bewusstsein bedeutet. Niemand weiß, woher es kommt. Es war nicht immer da und wird daher vermutlich nicht ewig währen – aber es kämpft um sein Überleben: immer. In jeglicher Hinsicht und auf allen Ebenen. Es ist das göttliche Prinzip. Menschen haben zwei baugleiche Hirnhälften. In der „dominanten“ Hälfte (bei Rechtshändigen links, bei Linkshändigen rechts oder links) befindet sich das so genannte Wernicke-Zentrum. Das ist der Teil, der uns zum Verstehen und Verarbeiten von Sprache befähigt. Im entsprechenden Teil der gegenüberliegenden Hirnhälfte wird, ich sage es mal verkürzt, das Irrationale verarbeitet. Zum Beispiel die Musik. Zum Beispiel der rettende Einfall. Zum Beispiel die Stimmen der Götter. Jetzt stell dir vor: Die beiden Hälften sind verbunden und es herrscht reger Austausch zwischen ihnen. Es geht ganz einfach. Zeichne oder ritze einen senkrechten Strich, an sein oberes Ende setze einen kurzen Schrägstrich nach unten an, gib dem eine Parallele in der oberen Hälfte des Hauptstriches: Dies ist die Rune Ansuz. Imaginiere dieses Zeichen für Frieden zwischen deinen Hirnhälften. Solch ein Frieden begünstigt das Denken wie das inspirierte Fühlen gleichermaßen. Er befördert die Kommunikation – das richtige Wort zur rechten Zeit, die zündende Rede, die treffende Aussprache – bis in ihre höchsten Formen: Dichtung und Gesang. Selbstverständlich ist „das Göttliche“ auch Quell aller Inspiration, jeglicher Idee, jeden Einfalls. Der uralte, ewig von Sterblichkeit bedrohte Triumph des Geistes über das Unbewusste steckt darin – und schwingt noch wortwörtlich in den Begriff der „Begeisterung“ hinein, der jene freudige Beseeltheit ausdrückt, die nicht nur das Gemüt erhellt, sondern meist zusätzliche Gedanken sprühen lässt: Eine Idee kommt niemals allein, sie sucht stets Gesellschaft.
Mich begeisterte diese: Spiritualität als persönlicher Entwicklungsauftrag. Keinerlei weisungsbefugtes Bodenpersonal. Wo geht‘s lang? Immer der Eingebung nach! Und wenn keine da ist? Dann trommle ich mir eine oder tanze – wenn dir das nicht liegt, such dir deine eigenen Methoden. Nachmachen ist Zwischenschritt, Eigenbau besser. Keine Gottheiten, an die ich „glauben“ müsste – dafür welche, denen ich begegnen kann. Die einen sind in physischen Entsprechungen präsent – Erde, Sonne, Mond… – andere verkörpern sich in Zuständen – Sinnlichkeit, Fülle, Liebe, Erlaubnis – alle leben sie in Gefühlen. Meinen. Ja, die meisten ihrer Namen habe ich aus der Edda, wo ich auch die ersten Beschreibungen las, was diese Großen anstellen oder was mit ihnen anzustellen sei. Aber dort konnte ich sie unmöglich lassen. Ihr Ruf zog mich in ihre Welt – so zog ich ihre Beschreibungen in meine. Zudem zeigten sich die Großen mir nicht nur in diesem oder jenem Buch. Rückblickend verwundere ich mich fast, dass ich sie zwischen jenen engen Zeilen überhaupt entdecken konnte. Aber ich hatte wohl einfach die Nasenspitze nah genug dran gehabt. An der ergriffen sie mich und zogen mich mit Schwung nach draußen: dorthin, wo Regen stürmt und der Boden matscht. Wo die Sonne gleißt und Wolken sich türmen. Wo Dornen kratzen, Insekten nerven und der Kompass streikt – und mir auf einmal der Kiefer runterhängt auf der Lichtung. Wo ich alles vergesse, was ich gelernt habe. Um etwas ganz anderes zu erfahren.
„Es war kalt. Ich ging in die Hocke, griff der Kruste ins harsche Weiß. Der Schnee schockte mir die Hand nass. Ich tat mir die Kristalle auf die Wangen, flüssige Kälte lief mir den Hals hinab wie ein Gebirgsbach. Als ich aufschaute, stand ein Mädchen auf der Lichtung. Ihr vielleicht zwölfjähriges Lächeln war todernst, doch aus ihren Augen sangen vergessene Zeitalter. Ich erinnere mich nicht, was sie anhatte, denn mein Blick fiel immer wieder links und rechts auf ihre schmalen Hände. Die kraulten ruhig und zärtlich die Nacken von zwei silbergrauen Wölfen. ‚Du weinst ja‘, sagte sie. ‚Nein‘, sagte ich. ‚Es ist nur das Eis, das schmilzt.‘“
(„Das Lächeln des Eises“,