Wie wollen wir uns den Runen aber nähern, wenn nicht assoziativ? Bei meinen Seminaren und Workshops rege ich, sobald ich erste Ausdeutungen einer Runenreihe vermittelt habe, die Teilnehmenden an, eigene Assoziationen zu finden und vorzuschlagen. Ich ermuntere dazu, auch absurd erscheinende Ideen erst einmal zuzulassen – sie können leichter zu besseren führen als das Abnicken von Vorgekautem, das persönlich vielleicht nicht genügend überzeugt. So sah zum Beispiel eine ältere Teilnehmerin (bei einem Workshop 2011 in Hamburg) typische Thurisaz-Kräfte ausgedrückt im „Geschrei eines Babys“. Volltreffer – oder? (Wer je einem Säugling rund um die Uhr nahe sein durfte, mag erahnen, wie gut diese ungewöhnliche Assoziation passt.) Es muss kein hundertprozentiger Konsens gefunden werden zu einzelnen Ausdeutungen. Wichtig ist, dass es persönliche sind, die den eigenen Gefühlen und Erfahrungen entsprechen.
Oder wie beschrieb ich Thurisaz einst, als ich sie – tatsächlich selber in Wut – unversehens als Tagesrune zog:
„Thurisaz – Riesen-Rumms. Duck dich, Disney, jetzt platzt der Ponyhof und Bambi fliegt in Teilen übers Dach, das folgt ihm gleich. Sturm und Feuer tanzen Tango und streiten sich dabei, wer führt. Haus und Hof schmecken ihnen gut, oder was immer ihre Nahrung ist. Sie sind nicht wählerisch, sie nehmen, was sie vorfinden. So ähnlich wie Wut: Ihr Resultat kann beliebig weit entfernt vom Anlass sein – Hauptsache, sie tobt sich aus. Muss sie auch: Sonst geht, auch wenn das jetzt zynisch klingen sollte (ist es aber nicht, ätschi-bätsch, und beweisen muss ich gar nix, glaub mir oder fick dich doch – oder, wie ich gestern so schön belauschte: '…kannst dir auch einen Finger in den Arsch stecken und Hubschrauber spielen…'), noch mehr kaputt. Explosionen sind gesund.
Finden zumindest Thursen und Psychologen. Zweitere kann ich nicht erklären – entweder, ich verstehe sie nicht, dann irritieren sie mich, oder ich verstehe sie, dann graust es mir. Mich können sie nicht verstehen, denn ich passe zu schlecht in ihr Handwerkszeug. Dumm gewachsen! Vor Thursen graust es mir nicht, heute wäre ich am liebsten selbst einer. Bäm! Und runter mit dem Schiffchen auf den Grund – einfach der schönen Welle wegen. Höre ich Mecker? Dann kann ich sie auch in den Hafen schicken, wo ihr sie Hafenwelle taufen dürft, auf Undeutsch Tsunami. Es kommt natürlich umgekehrt, sie tauft euch, und das ist dann nicht der Anfang eurer Biografien, sondern ihr Ende. Richtig geraten, Riesen sind in der Regel und auch außerhalb von solchen tendenziell rücksichtslose Gesellinnen. Es ist nicht gesagt, dass sie doof sind. Aber ich würde, selbst wenn sie nur diskutieren, in Deckung gehen. Sie wickeln ihre Argumente gern in Materie ein, das verleihe ihnen mehr Durchschlagskraft. Ist auch so.
Sonst ein großer Bewunderer des Bewusstseins, versetze ich mich heute mal walkür-, äh, willkürlich auf die andere Seite und frage: Wär‘s nicht auch mal schön, keins zu haben? Schon klar: Da bliebe ich nur mit einem Riesen-Körper unabhängig. Als Mensch ohne Geist wirst du sofort eingesackt und stückgepresst, bis du in irgendein System passt (ungeachtet dessen Inhalts, der ist in Wahrheit voll wurscht) und du eine Meinung eingeplombt bekommst, die du für deine eigene hältst, oder, noch erbärmlicher, für deine Identität. Wie gern wär ich Riese! Also nicht nur zwei Meter – damit musst du dich nur ständig bücken und alles um dich rum ist dir 20 Zentimeter zu kurz, zu knapp, zu eng – sondern zwölfundachzig Hektar oder, noch besser: Radius gefährlich, da unberechenbar schwankend! Die Satelliten oben könnten sich die Blechärsche rundrechnen, wo ich wohl als nächstes wüten würde und was ich dann mache (Millionenschäden! Was sonst! Davor haben sie Respekt!), und im TV würde ich mit einem schicken Tornadonamen vorgestellt – Erwin oder Käthe… Hmm, nee danke, ich vergaß: Das verfickte Menschenpack ist ja dermaßen geschmacklos. Muss ich doch unter ihnen bleiben und da was machen dagegen. Nur was? Einen knallpengkarachokrätschgrantelkrawommigen – rummszerscherbundbröckel – Tag wumms, äh, wünsch ich euch!“
KAPITEL IX
Betrachtungen zur Rune Ansuz: von konkurrierenden Weltsichten, vom dümmsten aller Dogmen, evolutionär bedingte Funktionsweisen menschlichen Denkens und Empfindens, Prinzipien der Spiritualität und Religiosität, Angst als Götterferne, vom Wesen des Geistes, das Göttliche in uns, Spiritualität als Entwicklungsauftrag
GÖTTLICHES GEFÜGE
Das großräumige Chaos, das die durch Thurisaz ausgedrückten Entladungskräfte hinterließen, kann nun in eine sinnvolle Struktur gebracht, gewissermaßen „aufgeräumt“ werden. Sowohl diesen Vorgang als auch sein Ergebnis repräsentiert die Rune Ansuz. Sie steht für die „kosmische Ordnung“… Ließe sich so sagen – wenn dieser Begriff nicht fest in die Wertekategorien einander widersprechender Weltsichten eingebunden wäre, die jeweils ausschließliche Deutungshoheit beanspruchen. Nun will und kann ich niemanden, der oder die nicht daran glaubt, von der Existenz irgendwelcher Gottheiten überzeugen – es ist nur so, dass die Rune Ansuz das altgermanische Wort „As“/„Asa“ im Wortstamm trägt, mithin „Gottheit“ bedeutet. Einigen wir uns darauf, dass die Vorgänge im für uns wahrnehmbaren Universum gewissen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, auch wenn wir uns nicht alle vollständig erklären können? Nichterklärbarkeit ist allerdings ein für Menschen schwer aushaltbarer Zustand. Unsere Wahrnehmung – als alles, was wir haben – ist von Natur aus auf überlebensdienliche Orientierung angelegt. Diese zu gewährleisten, ist dem menschlichen Großhirn jedes noch so verrückte Mittel recht. Darin liegt der Grund, dass wir nichts Sinnloses ertragen: dass wir in tanzende Schatten an der Wand lebende Figuren hineindeuten oder in mehr oder minder unerklärlichen Erscheinungen Götter oder Schicksalsgefüge am Wirken wähnen – oder Zeichen im Flug der Vögel lesen – oder auch nur einfach verstümmelte Wörter reflexhaft vervollständigen im Geist, ob die Ergebnisse stimmen oder nicht. Wir machen sie schon stimmig! In alles einen Sinn hineinzudeuten, ist keine menschliche Marotte, sondern tief im Überlebenstrieb verankerter Impuls. Wir alle stammen von denjenigen Urmenschen ab, die den Busch zehnmal für einen Bären hielten und sich neunmal dabei täuschten.
Können wir heute über die Ordnung der Welt sprechen, ohne eine bestimmte Weltordnung daraus abzuleiten?
Traditionell ist beides verknüpft. Praktischerweise eignet sich Ansuz auch zum Lösen von Fesseln. Dem gilt meine Rede hier. Die Rune repräsentiert das Bewusstsein, das Geistige – was dessen Entstehung aus dem Unbewussten, nämlich aus der der Bewusstheit vorgeordneten Weltdeutungsstruktur, impliziert. Genau diesen Vorgang beschreiben die nordischen Mythen mit Göttern und Riesen. Geisteshöhe ist es auch, was uns Menschen als Art auszeichnet: Sie ist unser spezieller Zahn, unsere besondere Klaue, unsere Eigenart. Uns reicht nie das Wissen, wie etwas funktioniert, wir fragen immerzu nach dem Warum. Jede Religion hat ihre eigene Antwort darauf und legt sich entsprechend fest – was genau genommen der menschlichen Neugier ein Stück weit widerspricht und ihre Rastlosigkeit provoziert. Vielleicht sind daher viele Mythen so blumig und versponnen: Wahrscheinlich waren sie am Anfang ganz einfach,