Kommissar Ebert erklärte die Spurensicherung für beendet. »Tatzeit und Tathergang sind eindeutig, die Schüsse wurden aus einer Schrotflinte abgefeuert, es hat keinerlei Kampfhandlungen gegeben, keine Gegenwehr, der arme Förster hat nicht den Funken einer Chance gehabt. So gut wie sicher kann gesagt werden, dass die Tat von einem Einzeltäter in der Nähe des Waldweges da oben verübt wurde. Gehen wir davon aus, dass er groß und stark war, mit hoher Wahrscheinlichkeit Jäger. Dann hat der Mörder sein Opfer über den Abhang hinuntergerollt, zum Nonnenloch über den Waldboden gezogen und in die Spalte fallen lassen! Der Tote wird in der Gerichtsmedizin noch weiter untersucht werden, doch hier ist unsere Arbeit zu Ende. Jetzt, meine Herrschaften, beginnt die Knochenarbeit! Es war ein vorsätzlicher Mord, geplant und brutal, fast schon eine Hinrichtung. Kollege Raffl, du musst morgen dein Büro räumen, das wird unsere Einsatzzentrale, jetzt wirst du erleben können, wie viele Steinchen man zusammentragen muss, um ein fertiges Mosaik zu bekommen!«
Zwei Männer trugen den Leichensack mit dem leblosen Körper zum Mannschaftsbus der Kripo am Waldesrand. Raffl rollte das Absperrband wieder auf und die Feuerwerker schleppten das Stromaggregat zum Rüstwagen. Bei Einbruch der Dämmerung lag der Wald wieder still und verlassen da, nichts deutete darauf hin, dass ausgerechnet der Mann, der jahrelang für seine Pflege verantwortlich gewesen war, hier ein blutiges Ende gefunden hatte.
4
Schweren Herzens überbrachte der Vater Susanne die Todesnachricht. Sie weinte nicht, sie brach nicht zusammen, saß wie erstarrt neben ihrer Mutter, die schützend ihren Arm um sie legte. Intuitiv hatte sie bereits in der endlosen Nacht des Wartens gespürt, dass ihrem Sepp Furchtbares geschehen war, gerade so, als hätte ihr der Hauch seines Todesengels die fraglose und unumstößliche Gewissheit nähergebracht, sie der letzten Hoffnung beraubt. Nur das Warum konnte sie nicht verstehen.
Bereits am nächsten Morgen begann die Kripo mit ihren Recherchen. Raffls Büro wurde im Handstreich besetzt, Computer wurden installiert, Möbel hin und her gerückt, Fotos des Tatortes und des Opfers an die Wand geheftet. Man kopierte Zettel mit der Bitte um etwaige Hinweise an die Bevölkerung und verteilte sie im Ort. Die Einvernahme Susannes geschah aus Rücksicht ihr gegenüber im Forsthaus. Ebert hatte die Leitung übernommen, Raffl und eine Sekretärin, welche das Protokoll mit einem Laptop schrieb, waren ebenfalls anwesend. Ebert erklärte Susanne, dass unter Umständen auch peinliche Fragen vonnöten waren und sie die Pflicht hätte, wahrheitsgemäß auszusagen. »Wo waren Sie in der Nacht von Sonntag auf Montag?«
»Hier, im Haus natürlich. Es war ein Sonntag wie jeder andere. Vormittags gingen wir zur heiligen Messe um zehn, dann aßen wir zu Mittag, spielten eine Runde Schach und gingen eine Stunde spazieren. So gegen vier tranken wir Kaffee, nachher ging der Sepp in den Wald, auf Nimmerwiedersehen.« Sie wischte sich die Tränen ab und stockte.
»Und dann?«, wollte Ebert von ihr das wissen, was er schon zuvor erfahren hatte.
»Dann bin ich die ganze Nacht vor dem Fenster gestanden und habe in die Finsternis gestarrt, bin drei-, viermal vor das Haus gelaufen und habe seinen Namen immer wieder in die Leere hinausgeschrien. Um fünf Uhr habe ich mich dann angezogen und mit dem Hund immer größere Runden um das Forsthaus gedreht, in der Hoffnung, irgendeine Spur vom Sepp zu finden.«
»War jemand bei Ihnen, kann das wer bezeugen?«, kam postwendend die übliche Frage.
»Nein, natürlich nicht, ich war doch allein zu Hause und weit und breit kein Mensch zu sehen. Warum denn auch?«
»Hat sich Ihr Mann in letzter Zeit bedroht gefühlt? War er anders als sonst? Schweigsam, wortkarg, verbarg er Sorgen vor Ihnen, mit denen er Sie nicht belasten wollte? War er nervöser als normal, hat er Zorn oder Unmut in sich hineingefressen, verhielt er sich auffällig, gab es irgendwelche Probleme, von denen Sie nichts wissen durften? Mit der Forstkanzlei oder dem Personal? Sprach er jemals von verdächtigen Personen, die im Wald nichts zu suchen hatten, von Holzdieben etwa oder Wilderern? Gab es Streit mit Geländemotorradfahrern, mit Reitern oder Mountainbikern auf Wegen mit Fahrverbot? Hatte er kurz vor seinem Tod böse Vorahnungen, war er verunsichert, verkroch er sich in sich selbst?«
»Er sprach nicht besonders viel über seine Arbeit und er war auch nicht der Typ, der sich bei mir ausweinte, wollte alles auf seine Art lösen. Aber ich glaube nicht, dass es irgendwas gab, was ihn in letzter Zeit mehr belastete als sonst. Er war ein gewissenhafter Mensch mit Freude an seinem Beruf und trug den grünen Rock mit Stolz. Nie gab es irgendwelche Probleme mit der Herrschaft, alle waren zufrieden mit ihm!« Als ihr bewusst wurde, dass sie soeben in der Vergangenheitsform von Sepp sprach, brach sie zusammen und schluchzte haltlos.
»Hatten Sie Streit in letzter Zeit, ernstere Meinungsverschiedenheiten? Gab es Anlässe, bei denen Ihr Mann an Ihrer Treue, Sie an seiner Treue zweifelten? Eifersuchtsszenen, häusliche Gewalt? War er anders als sonst? Wie schaut es mit den Finanzen aus, gab es jemals Streit wegen des Geldes?« Wie ein Automat spuckte Ebert den Fragenkatalog aus, den er im Lauf der Jahre schon so oft gestellt hatte, dessen Muster sich immer wieder wiederholte.
Wie von einer Tarantel gestochen sprang Susanne auf. »Nein, nein und wieder nein! Wir verstanden uns gut, es gab keine Probleme, weder finanzielle noch persönliche!« Sie schlug ihre Hände vors Gesicht, weinte hemmungslos in sich hinein. Nun stand auch Raffl auf, nahm sie schützend in den Arm und giftete Ebert an: »Jetzt hör doch endlich auf damit, du siehst doch, dass die arme Frau mit ihren Nerven am Ende ist!«
Zornesrot im Gesicht tadelte Ebert den Kollegen: »Gewöhn dir das ab, meine Zeugen beeinflussen zu wollen. Ich tu nur meine Pflicht und du solltest es auch so handhaben. Wir sind hier, um einen Mordfall aufzuklären, und jeder ist verdächtig, solange seine Unschuld nicht bewiesen ist. Hast du das verstanden?« Plötzlich wurde es mucksmäuschenstill im Raum. Sekundenlang schien es, als wäre sämtliche Luft entwichen. Nach diesem schreckhaften Moment beruhigte sich die Szene.
Ebert beendete die Einvernahme mit einer letzten, wesentlichen Frage. »Bitte kontrollieren Sie, ob er vielleicht höhere Geldbeträge abgehoben hat. Rufen Sie mich an, wenn es auf Sparbüchern oder Girokonten ungewöhnliche, unerklärliche Bewegungen gegeben hat. Schauen Sie bitte nach, ob irgendwelche Wertsachen im Hause fehlen, wie Schmuck oder Ähnliches! Benutzte Ihr Mann eine Kreditkarte?«
Susanne stutzte. In diesem kurzen Augenblick fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, wie wenig sie eigentlich von ihrem Mann wusste: »Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht, hab mich nie darum gekümmert.«
Ebert und Raffl standen auf, wollten sich verabschieden. Begriffen endlich, dass hier nichts mehr zu holen war. In der Türe stehend, drehte sich Ebert noch einmal um. »Hier haben Sie meine Visitenkarte, falls Ihnen noch irgendetwas einfällt, egal, ob es wichtig erscheint oder nicht, rufen Sie mich bitte