„Von wem denn?“
„Von einem Anwalt in Florida“, antwortete ihre Mutter, schaute wieder auf die Uhr und zog ein Gesicht. „Ich muss jetzt aber wirklich los. Und vergiss nicht, dein Essen steht im Ofen.“
Im selben Moment, als die Tür geschlossen wurde, stürzte Beck aus dem Bett ins Bad und ging vor der Kloschüssel in die Knie – Erleichterung. Wie war es nur möglich, dass das, was für sie sonst immer fast das Schlimmste auf der Welt gewesen war – nämlich sich zu übergeben –, ihr eine solche Erleichterung verschaffte?
Dann betrachtete sie sich in ihrem T-Shirt, das am Bauch bereits spannte, im Spiegel.
Sie hatte ein Problem. Ein großes, vielschichtiges Problem, vor dem sie nicht davonlaufen konnte. Das Baby machte sich bemerkbar und sie konnte es nicht länger ignorieren.
Die ersten beiden Monate hatte sie gedacht, dass sie zu viel arbeitete, weil sie ständig müde war, aber dann hatte die Übelkeit angefangen.
Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie sich einfach zusammen mit Beetle Boo in ihrem Zimmer verkrochen, bis der Winter und all ihr Ach und Weh vorbei waren. Aber nach dem, was man so hörte, war eine Geburt mehr als nur ein Weh.
Die Geburt …
Die würde sie wohl allein durchstehen müssen.
Nachdem sie sich die Zähne geputzt und das Gesicht gewaschen hatte, ging sie wieder ins Bett, legte sich neben Beetle, starrte zur Decke und versuchte, an nichts zu denken.
Als sie noch klein war, hatten ihre Eltern immer mit ihr gebetet, wenn sie sie ins Bett gebracht hatten. Die Erinnerungen daran waren verschwommen und außer ihrer Mutter hatte niemand mehr klare bildhafte Erinnerungen an ihren Vater.
Neben ihr regte sich jetzt der Hund mit einem leisen Winseln und versuchte, aus dem Bett zu springen. Beck hob ihn herunter, setzte ihn auf den Boden und schaute zu, wie er kurz schwankte und dann zu seiner Wasserschüssel tapste.
Sie würde bald mit ihm nach draußen gehen müssen. Er brauchte Hilfe dabei, sein Geschäft zu machen, weil er sein Hinterbein beim Fall auf den Beton verletzt hatte, und auf den Röntgenbildern waren außerdem noch zwei ältere Brüche zu erkennen gewesen. Der Schlag sollte Boudreaux treffen.
Ohne nachzudenken flüsterte sie ein Gebet für den Hund – und dann auch noch eines für sich selbst. Sie hatte im Beruf so oft das verzweifelte Flehen sterbender Opfer, verängstigter Täter und trauernder Angehöriger gehört und war deshalb mittlerweile davon überzeugt, dass der Impuls, an den Himmel zu appellieren normal und auch legitim war.
„Frohes neues Jahr, Gott, ich bin’s Beck Holiday. Ich brauche Hilfe.“
Mit geschlossenen Augen wartete sie auf eine Art Stimme oder auf ein Gefühl, auf irgendeine Antwort vom Allmächtigen, aber das Einzige, was sie hörte, war der Signalton ihres Handys, der ihr mitteilte, dass eine Nachricht eingegangen war.
Stöhnend drehte sie sich zum Nachttisch um. Die ganze Serie einzeiliger Nachrichten kam von ihrem Vorgesetzten Lieutenant Hunter Ingram.
Beck?
Ruf mich an.
Wo bist du?
Was ist passiert?
Ich muss es wissen.
Ich kann dich sonst nicht decken.
Weiß nicht, ob ich es überhaupt kann.
Sergeant?
AUFWACHEN!
Sie hob Beetle Boo wieder zu sich ins Bett und überlegte, welche Optionen sie hatte.
Von zu Hause ausreißen? Nein, dazu war sie zu alt. Sie wäre liebend gern abgehauen und in ein neues, surreales, perfektes Leben geschlüpft, in dem es vernünftig war und einen Sinn ergab, schwanger zu sein, und in dem ihr Zustand ihr nicht Angst, sondern Hoffnung machte.
In ein Leben, in dem sie ein eigenes Zuhause hatte, einen Mann, der ihrem Baby ein Vater sein würde – wenn sie sich überhaupt dafür entscheiden würde, es zu bekommen –, in dem ihre Kindheitserinnerungen zurückkommen würden, und ein Zuhause, in dem der Schmerz über den Tod ihres Vaters sie nicht von ihrer Mutter trennte, sondern beide verband.
Aber das war nur ein Traum und wahrscheinlich zu viel verlangt vom Leben. Nach achtzehn Jahren machte sie sich keine Hoffnung mehr.
Das war auch der Grund, weshalb sie gern Polizistin war. In dem Job kannte sie sich aus, wusste, was von ihr erwartet wurde und fand sich selbst Tag für Tag in den Routineabläufen wieder.
Durch eigene Dummheit hatte sie sich in dieser einen blöden Nacht selbst in Schwierigkeiten gebracht. Dafür konnte sie niemand anders verantwortlich machen – abgesehen von ihm. Sie waren beide betrunken gewesen, aber wenn ihre ziemlich verschwommene Erinnerung sie nicht trog, war sie es gewesen, die im Rosie’s die Initiative ergriffen hatte.
Inmitten all der Nachrichten von Ingram war auch eine von Hogan.
Wie geht‘s dem Hund? Ruf mich an. Boudreaux‘ Anwalt ist hier schon aufgekreuzt, bevor ich den Bericht fertig hatte.
Sie wollte ihm gerade zurückschreiben, als ihr Handy klingelte. Ah, das war Ingram. Am Klingeln merkte sie, dass er die Geduld verlor.
Trotzdem drückte Beck ihn weg, warf das Handy zwischen die Papiertücher, Papiere, Bücher und Duftöle in der Nachttischschublade und vergrub sich mit ihren Sorgen im Kissen.
Vielen Dank auch für deine Hilfe, Gott.
Sie musste wieder eingeschlafen sein, weil ein Klopfen an der Tür sie aus einem traumlosen Schlaf aufschreckte.
„Ja?“ Sie räusperte sich und warf einen Blick auf ihren Wecker. Es war sieben Uhr abends.
Ihr Stiefvater Flynn betrat in seiner Polizeiuniform mit dem Dienstgrad eines Captains ihr Zimmer. „Du hast wirklich auf Streife deinen Posten verlassen?“
Beck zog jetzt die Bettdecke etwas zurecht, sodass Beetle Boo zum Vorschein kam. „Nein, ich habe nicht den Posten verlassen, sondern ich bin nur mit dem kleinen Kerl hier beim Tierarzt gewesen“, antwortete sie. „Hogan hat den Verdächtigen aufs Revier gebracht – was reine Zeit- und Geldverschwendung war. Gibt es noch Gerechtigkeit auf der Welt, Flynn?“
„Ja, es gibt Gerechtigkeit. Und irgendwann steht jeder vor seinem Richter.“ Er deutete jetzt mit dem Kopf auf den Hund und bemerkte: „Du hättest die Tierrettung verständigen können. Das ist deren Job. Deiner ist es …“
„… ein unschuldiges, verletztes, bettelndes Tier zu ignorieren, um einen Wiederholungstäter festzunehmen? Der, nebenbei bemerkt, schon wieder auf freiem Fuß war, bevor Hogan auch nur den Bericht fertig geschrieben hatte. Nein, Flynn. Ich habe den kleinen Kerl hier gerettet.“ Sie kraulte Beetles Nase, woraufhin der den Kopf hob und ihre Hand mit seiner rosa Zunge berührte.
Flynn starrte sie einen Moment lang an, hin- und hergerissen zwischen seinen Rollen als Polizei-Captain und als Stiefvater.
Flynn und ihr Vater waren seit der Schulzeit beste Freunde gewesen. Mit zweiundzwanzig waren sie beide zusammen zur Polizei gegangen und von da an tagein, tagaus, von Mitternacht bis acht Uhr morgens auf der Jagd nach Straftätern und dem nächsten Kaffee gewesen.
Nach den Anschlägen vom 11. September hatte Flynn oft vorbeigeschaut, um nach „Dales Witwe“ zu schauen, und ein Jahr später hatten er und ihre Mutter dann geheiratet.
„Was ist denn passiert?“, fragte er mit einem tiefen Seufzer.
„Ich hab einen