„Sie haben recht“, sagte er. „Ich kenne Sie nicht. Und ein paar Fakten und Zitate aus dem Internet schaffen keine Verbindung zwischen zwei Menschen. Bei jedem anderen Spieler hätte ich Sie nicht behelligt, aber Tyvis ist was Besonderes, Bruno. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Junge für so wenig so hart arbeitet. Um fünf Uhr morgens ist er im Kraftraum, und vor und nach dem Unterricht arbeitet er in der Cafeteria, um Geld zu verdienen. Er ist immer bereit fürs Training, schafft alle Leistungsvorgaben im normalen Schulunterricht und das Tag für Tag für Tag. Und stellen Sie sich vor, er hat immer noch ein Klapphandy. Man kann ihm keine Nachrichten schreiben, weil er kein Smartphone besitzt. Er hat Mist gebaut und will den Schaden, den er angerichtet hat, wiedergutmachen. Zusätzlich will er für seine Mutter, seine Schwester und seinen Bruder sorgen, und er möchte gern den Traum leben, den er hat, seit er neun ist. Sagen Sie mir eines: Warum sind Sie als Jurist Spielerberater und nicht Firmenanwalt oder Prozessanwalt geworden? Da würden Sie viel mehr verdienen, hätten pünktlich Feierabend und an Wochenenden und Feiertagen frei.“
Bruno wechselte seine Position und dachte, dass sie bestimmt nicht die Zeit hatten, all seine Gründe aufzuzählen. Aber in Wirklichkeit war seine Antwort ganz einfach. „Ich liebe es“, sagte er deshalb.
„Dann sollten Sie Tyvis ernsthaft in Betracht ziehen. Er liebt es nämlich auch. Ich sehe Spieler und ich sehe echte Spieler“, sagte der Coach im Brustton der Überzeugung. „Und er ist geboren, um Football zu spielen. Wieso in einem Büro sitzen oder in einem LKW, wenn man weiß, dass man auf den Footballplatz gehört?“
In dem Moment ging die Tür auf und Tyvis schaute herein. „Fertig?“
„Auf geht’s“, sagte der Coach, klimperte mit den Schlüsseln, schaltete die Lichter im Büro aus und forderte Tyvis auf, mit zum Essen zu kommen.
Auf dem Weg zum Wagen checkte Bruno seine Mails. Außer hinter Calvin Blue war er auch noch hinter einem Spieler von der Ohio State University und einem aus Florida her, von denen es aber nichts Neues gab.
Bruno fuhr hinter dem dicken Ford F350 Truck des Coaches her und telefonierte dabei mit seiner Mutter. „Wie war dein Tag?“ Seit dem Unfall, bei dem sie zwei Stunden lang im Straßengraben gelegen hatte, bevor jemand sie dort entdeckt hatte, war er in Gedanken immer halb bei ihr.
„Mrs. Acker wollte heute Rosen pflanzen.“
„Im Winter?“ Selbst in Florida gab es Jahreszeiten, in denen man pflanzte und säte.
„Und nächste Woche muss ich sie wahrscheinlich wieder rausreißen und stattdessen Orchideen pflanzen. Wann bist du denn wieder zu Hause?“
„Heute Abend.“
„Mit dem kleinen Flugzeug?“, stöhnte seine Mutter. „Ich weiß, du sagst, dass Stuart ein hervorragender Pilot ist, aber schon allein bei dem Gedanken bekomme ich eine Gänsehaut. Kannst du nicht einen Fallschirm tragen?“
„Für den Fall, dass wir abgeschossen werden?“
„Es könnte doch ein Motor ausfallen oder explodieren.“
Schmunzelnd entgegnete Bruno: „Stuart ist wirklich ein hervorragender Pilot und sein Flugzeug ist ebenso hervorragend. Dir ist schon klar, dass er mich umsonst durch den ganzen Süden fliegt, nur weil er Flugstunden als Pilot braucht, oder? Durch ihn spare ich sehr viel Zeit und Geld, Mama. Weil ich heute Abend schon zu Hause bin, statt im Auto zu sitzen oder auf einen Linienflug zu warten, kann ich dich morgen früh zum Frühstück im Bright Mornings Café einladen. Na, wie wär’s?“
„Gern, aber es gefällt mir trotzdem nicht, dass du in einem Privatjet in der Gegend herumfliegst.“ Ein bisschen ließ die Anspannung in ihrer Stimme jetzt nach. „Ich freue mich, dich bald wiederzusehen.“
Er war den ganzen Dezember nicht zu Hause gewesen. Ein Pokalspiel nach dem anderen hatte dafür gesorgt, dass er ständig unterwegs gewesen war, sogar über Weihnachten.
Sie plauderten noch ein bisschen, während Bruno auf der kurvigen zweispurigen Straße, die von kahlen Ahornbäumen und hohen Pinien gesäumt war, hinter Coach Brown herfuhr.
Er wollte sich gerade von seiner Mutter verabschieden, weil sie zum Haus des Coaches abbogen, als seine Mutter sagte: „Es gibt da noch eine Neuigkeit, die ich dir verschwiegen habe, Bruno.“
„Was denn?“, erkundigte er sich und parkte seinen Wagen hinter dem Truck vom Coach, schaltete den Motor aus und spürte einen leichten Adrenalinstoß. War sie krank? Krebs? Nein, denk gar nicht dran. Hatte sie jemanden kennengelernt?
Ihre Stimme hatte den gleichen Klang wie damals, als sie ihn wegen des Unfalls angerufen hatte. Oder als sie ihm gesagt hatte, dass sein Vater gestorben sei.
„Es geht um Miss Everleigh, mein Junge. Sie ist gestorben.“
„Miss Everleigh? Wann?“, fragte Bruno und schaute aus dem Fenster, während ihn der Coach ins Haus winkte. Doch statt auszusteigen, legte er den Kopf aufs Lenkrad.
Er hatte gerade ein Stück seiner Kindheit verloren, das ihm heilig war. Die Frau mit dem engelsgleichen Gesicht hatte sein ganzes Leben lang gegenüber gewohnt. Die Frau im Memory House – wie er es als Kind genannt hatte – hatte ihm beigebracht, wie man Chocolate Chip Cookies backt, Marshmallows grillt und die Arche Noah aus Eisstielen bastelt.
In dem weitläufigen viktorianischen Gebäude mit seinem Türmchen, den Erkern und der Wendeltreppe hatte er seine Nachmittage verbracht, nachdem sein Vater die Familie verlassen hatte und seine Mutter in zwei Jobs hatte arbeiten müssen. Und in Miss Everleighs Garten hatte er sich mit acht Jahren verliebt – in Beck Holiday –; seit Jahren hatte er nicht mehr an sie gedacht.
„Direkt nach Thanksgiving.“
„Thanksgiving? Und dann sagst du es mir erst jetzt? Habe ich jetzt etwa die Trauerfeier verpasst?“
„Nein, die ist am nächsten Sonntagnachmittag. Miss Everleigh wollte nicht, dass viel Aufhebens um ihr Begräbnis gemacht wird, aber der Pastor hat anders entschieden. Weil wegen der Feiertage – besonders Thanksgiving – viele Leute nicht zu Hause waren, sondern zu Besuch bei Verwandten, ist der Trauergottesdienst verschoben worden. Schaffst du es, bis Sonntag zu Hause zu sein?“
„Ja sicher.“ Er würde es sich ganz bestimmt nicht nehmen lassen, von der einzigen „Großmutter“ Abschied zu nehmen, die er je gehabt hatte.
Nachdem er das Gespräch beendet hatte, stieg er aus dem Wagen und schaute zum grauen, regnerischen Horizont.
„Ruhen Sie in Frieden, Miss Everleigh.“ Er hatte sie eigentlich häufiger besuchen wollen, nachdem er wieder nach Fernandina Beach zurückgekehrt war, aber der Sichtungsmarathon ließ ihm kaum Zeit, sich um das eigene Leben, geschweige denn um das anderer Menschen zu kümmern.
„Bruno! Das Essen ist fertig“, rief der Coach zum offenen Garagentor heraus. „Und außerdem fängt es an zu regnen. Hat Ihre Mutter Ihnen nicht beigebracht, dass man dann ins Haus geht?“
„Ich komme.“
Im Haus lachte Tyvis mit einer schlanken Frau mit rötlichem Haar und neugierigem Blick. Neben seiner dunklen, muskulösen Figur wirkte sie wie ein Zwerg, aber die Stärke, die er ausstrahlte, war sanft. Die Szene war wie Balsam nach dem, was er gerade von seiner Mutter erfahren hatte, und als Bruno jetzt diese Szene sah, wünschte er sich solche Augenblicke auch für sein eigenes Leben – vielleicht sogar eine eigene Familie.
Aber dazu musste er sein Leben entschleunigen, eine Beziehung mit einer Frau eingehen, die länger hielt als nur ein Date, und sich innerlich mehr öffnen.
„Ich hoffe, Sie haben Hunger“, sagte der Coach und schob Bruno in den Raum.
„Das kann man wohl sagen“, erklärte er und schaute erst Tyvis und dann Mrs. Brown an.
„Ich bin bereit fürs Essen.“