Um Himmels Willen, was würde mit Pepa geschehen?
Bruder Manuel fasste sich mit einer fahrigen Bewegung an den Kopf, das Blut durchströmte ihn heiß.
Mochte ihn die Eintönigkeit des Klosterlebens, die ewige Betrachtung, das ewige Beten, so einfältig gemacht haben, dass er ihr Schicksal angesichts des nahenden Inquisitors nicht bedacht hatte und nur das des Jungens?
Der Priester der Finsternis würde herausfinden, dass Pepa hier lebte. Er wie seine vielen Brüder im rachsüchtigen Geiste hatte tausend Augen. Und natürlich auch tausend Ohren. Man würde ihm die Schafe, die schwarzen, nennen, die die Herde störten. – Befleißigung, viel tausendfache, um das eigene Licht zu erhellen und den Einsatz für den rechten Glauben zu bekunden.
Er würde zu den Denunzierten gehören. Bruder Manuel spürte und wusste es.
Um Pepas Dasein an diesem tristen Ort würde trotz ihrer Nützlichkeit Aufhebens und Geschrei gemacht.
Und wenn der Inquisitor seiner Beute nicht habhaft wurde und er von der Flucht des Jungen erfuhr, würde er andere Opfer suchen.
Pepa und auch er würden keine Möglichkeit mehr haben, mit heiler Haut davon zu kommen.
Warum hatte er dies bislang nicht so deutlich gesehen? Er hätte sich dafür ohrfeigen mögen, doch noch resultierte aus seiner Gedankenlosigkeit kein Schaden, war noch keine wertvolle Zeit vertan worden.
Die Rettung des Jungen, sie stand zuerst an. Danach erst konnte er an Pepa und sich denken und wie geboten handeln.
Über den Tag hinweg musste er herausfinden, wann genau mit dem Erscheinen des Inquisitors zu rechnen war. Vielleicht gab es irgendeine Neuigkeit. Die ihm bislang vorliegenden Meldungen waren allesamt nur vage gewesen.
Es hatte sich, obwohl der Prior um Geheimhaltung bemüht gewesen war, herumgesprochen, dass die Inquisition wegen des Kindes benachrichtigt worden war.
Wenn es vielleicht auch neue Nachrichten gab, Bruder Manuel wurde sie nicht gewahr.
Die Angst, die alle Mitbrüder wegen des anstehenden äußerst unangenehmen Besuchs in Beschlag genommen hatte, lähmte ihre ohnehin nicht ausgeprägte Gesprächigkeit zusehends.
»Memento mori.« Sei eingedenk, dass Du sterben musst.
Viel mehr als diesen Wahlspruch bekam er nicht zu hören. Bruder Manuel blieb ohne Aufschluss. Er musste sich darauf verlassen, dass ihm noch ein wenig Zeit verblieb.
Über den Tag hatte er ein Treffen für die Zeit des ersten nächtlichen Silentiums vereinbart, der ersten Schlafenszeit, die kurz vor Mitternacht endete. Er konnte sicher sein, dass ihn dann niemand behelligte.
Es war Alberto, dem er begegnete. Alberto war der Ausfahrer der klösterlichen Notdurft, insofern damit vertraut, dass das Kloster ein nur allzu menschlicher Ort war. Auch ansonsten wusste er um die Gewöhnlichkeit der hier beheimateten Menschen, um ihre Bedürfnisse und zuweilen unchristlichen Anliegen.
Alberto schaffte alles ins Kloster und alles aus ihm heraus. Hauptsache, seine Auftraggeber waren zufrieden und es sprang für ihn etwas heraus, damit er sich und die Seinen durchbekam.
Immerhin war er so gläubig, dass er bei Erhalt jeder über den üblichen Lohn hinausgehenden Gabe eifrig das Kreuz schlug.
Der liebe Gott musste mit ihm sein, sonst hätte er ihm keine so schöne Möglichkeit verschafft, auf vielfache Weise wenig zwar, aber genügend hinzu zu verdienen. Und wenn manches Geschäft auch nicht sauber war, sein Hauptgeschäft war es auch nicht und gehörte doch zum Alltag und selbst zur heiligen Welt.
Diesen Reim machte er sich zu dem Ganzen und blieb so ohne Gewissensnot.
Bruder Manuel, dem hatte er schon einige Male geholfen, und alles war bei pünktlicher Bezahlung still vonstatten gegangen und still geblieben. Deshalb nahm er von ihm nun auch gerne einen weiteren Auftrag an.
Zwei Kinder herauszubringen, darunter Pepa, die er kannte. – Kein Problem!
»Mich dann auch noch.«
»Oho!«
Ein Mönch selbst, ein weiterer Bruder, der sich aus dem Kreis der Erleuchteten verabschiedete, und das unerlaubt. Das würde sicher mit einer Befragung enden. Er konnte natürlich nichts zu dem Verschwinden all der Brüder sagen.
Brauchte nur sein alltägliches Gesicht aufzusetzen, in dem sich von früh an eine große Ahnungslosigkeit von dem Lauf der Welt bemerkbar machte.
Nein, er würde nichts mit dem Verschwinden des Mönches und auch nichts mit dem Verschwinden der Kinder zu tun haben. Nein, er würde auch nichts gesehen und gehört haben, das im Zusammenhang mit den Geschehnissen stand.
Alberto meinte es erst einmal gut mit all denen, die ihn für eine Unternehmung in Anspruch genommen hatten, und die, die ihn hinterher vielleicht für eine Befragung in Anspruch nahmen, die mussten zurückstehen.
Alles Tun hatte schon irgendeine Berechtigung, und all die Fragerei hinterher kam doch eh zu spät und brachte nichts.
Das war seine einfache Denkart. Keine Worte, einfach nur machen! So würde er es jetzt auch halten.
Bruder Manuel hatte seine Gründe, diesen Ort zu verlassen, und dass er Pepa mitnehmen wollte, das leuchtete ihm ein.
Um das andere Kind machte er sich keine Gedanken. Es war alles in Ordnung, so wie Bruder Manuel es sich ausgedacht hatte.
Schnell waren die notwendigen Absprachen getroffen. In zwei Tagen bei Neumond sollte es so weit sein.
Wie immer schaute Alberto auch bei diesem Gespräch treuherzig drein, um alle etwaigen Zweifel, was seine Zuverlässigkeit anbelangte, zu zerstreuen.
Alberto hielt, was er versprach. Stets und immer! Es würde ihm nie jemand etwas Schlechtes nachsagen können.
Das war das Versprechen, das heilig gehaltene, für seinen toten Vater Felipe.
Ihm verdankte er alles. Auch sein Vater war schon Ausfahrer der klösterlichen Notdurft gewesen und hatte sich geehrt gefühlt.
Von ihm hatte Alberto alles, was er für sein Leben wissen musste, gelernt und abgeschaut.
Nicht fragen, nichts sagen, nur tun!
Albertos Abfahrt vom Kloster wurde von gierigen Augen, die alles genau verfolgten, begleitet.
Alberto träumte von saftigen Schinkenbeinen mit schwarzen Füßen dran, die er unter die Decke seines kleinen Hauses hängen würde. Die Unruhe eines Pferdes, das sich ganz in der Nähe aufhielt, holte ihn aus seinem Traum. Er hielt sein Gespann an und lauschte in die nahezu stockfinstere Nacht. Nichts war zu hören und doch spürte Alberto, dass eine Wahrheit sich vor ihm verbarg.
»Alberto ist hier! Wer etwas von ihm will: er wartet gern!«
Tat es, aber alles blieb still.
»Dann nicht.«
Mit einem Seufzer setzte Alberto seine Fahrt fort und träumte bald schon wieder von saftigen Schinken.
Es war die letzte Fahrt in seinem Leben vom Klosterberg hinunter ins nah gelegene Dorf.
*
»Du hast gesagt, du machst mich gesund!«
»Ja, das hab ich gesagt. Ich habe schon viel gelernt. Im Klostergarten wächst für jede Krankheit ein Kraut!«
»Auch für meine?«
Gabriel hatte schnell Vertrauen zu Pepa gefasst. Ihre Unbekümmertheit und ihre Zuneigung hatten ihm die Scheu genommen.
Er hatte es selbst an sich bemerkt, dass er wieder gesprächig geworden war.
Wie lange hatte er schon nicht mehr richtig geredet?!
Keiner, der mit ihm sprechen wollte, keiner, mit dem er sprechen wollte. Bis dieses Mädchen sich einfach an den Bettrand zu ihm gesetzt und mit ihm zu reden