Er musste Ordnung schaffen, musste zeigen, wer oben und wer unten stand.
Ein sich einstellender Sinneswandel, dem die entsprechenden Taten folgten.
Noch am Nachmittag wurde Pablo auf den Marktplatz geschleift, dort an einem Strafgerüst festgebunden und ausgepeitscht.
Erklärungen hierzu gab es nicht. Eine Tat der Einschüchterung auch.
Pablo würde niemand mehr erzählen wollen, dass er im Herrenhaus gewesen war und wie sein Besuch dort verlaufen war. Er hatte seine Lektion gelernt und wusste, dass sein Leben einzig von der Gnade des Herrn abhing. Er hätte ihn auch totschlagen lassen können und wäre doch für sein Tun nicht zur Rechenschaft gezogen worden.
Also würde kein Wort über seine Lippen kommen.
Und niemand von denen, die Pablo nahestanden, würde an ihn herantreten, um die Hintergründe zu erfahren, weil die Gefahr, sein Schicksal zu teilen, spürbar war.
Sion de Albanez lag nicht verkehrt in seiner Einschätzung.
Pablo schleppte sich aus eigener, wenn auch gebrochener Kraft mühsam nach Hause. Mit jedem Peitschenhieb hatte sich das Gebot des schweigen müssen in ihm eingebrannt.
Die Menschen, die ihm auf seinem Weg begegneten und die der erbärmliche Zustand des alten Fischers nicht kalt ließ, äußerlich aber kalt lassen musste, wichen ihm aus und nur Margarita, die zu Hause mit größter, kaum auszuhaltender Sorge zugewartet hatte, lief ihm stumm und mit Tränen in den Augen aus dem Haus heraus entgegen und legte den seinen linken Arm über ihre Schulter, um ihm behilflich zu sein, den Rest der Strecke zu bewältigen.
Nur eine Denkpause hatte Pablo eingeräumt bekommen.
»Morgen erzählst du uns alles, was du weißt!«, rief der verhasste Juan ihm nach.
*
Die Schläge spürte auch er in seiner Seele. Er spürte sie so deutlich, dass sie ihm körperliche Schmerzen bereiteten. Auch die Leiden aller sonst mit ihm verbundenen Menschen hatten ihren Weg zu ihm gefunden, über alle Entfernung und über hohe, undurchdringbare Mauern hinweg.
Er stand mit der Welt, mit seiner Welt, in Verbindung und ihre jetzige Not war seine und aus seiner ersten, so unvermittelt hereingebrochenen, war die ihre erst heraus geboren worden.
Leben, welches auf allen Wegen und an allen Plätzen dem Untergang entgegen zu gehen schien, das Leben in dem kargen Raum, der seine erste Heimat war, das Leben in den dunklen Löchern des Gefängnisses unweit von ihm und das Leben, seines, hier in diesem Gemäuer, welches zwei Tagesreisen entfernt von seiner Heimat lag.
Er hörte in die Dunkelheit hinein, in dieses zeitlose Nichts, schaute auf den blinden Spiegel seiner Seele und vernahm nicht einmal seine eigene innere Stimme. Seine Sinne, so weit sie auf diese aufgelöste Gegenwart gerichtet waren, betäubten sich an seiner Ohnmacht. Augen, in die ein spärlicher Rest an Licht floss, die an seelenlosen Konturen festmachten, ohne bewusstes Erleben.
Allein die Schmerzen, die ihm aus der Ferne her zuteil wurden, erlebte er bewusst und sie steigerten sich in seiner Ohnmacht.
Jedes Tun wäre ein Schritt zur rettenden Gegenwehr gewesen, hätte Hoffnung geschaffen und dem Mut das Tor geöffnet, zu dem auch aller Schmerz hätte hinaus eilen können. Doch die Verurteilung zum nicht enden wollenden Ausharren, das Anketten seiner kindlichen Seele an die Trostlosigkeit des Nichtstunkönnens, riss ihm nur noch größere Wunden. Selbst der standhafteste Mann, auch ein alter Greis ohne einen Anspruch noch an die Welt, wären in dieser Lage ihrer Verzweiflung entgegengeeilt.
Und wie nur sollte ein Kind hier eine lediglich begrenzte Zeit allein seinem Schicksal trotzen können? Minute um Minute, wie Stunden zu empfinden, Stunde um Stunde, wie Tage sich ziehend, und Tag auf Tag einer unerträglichen Ewigkeit zugleich verging die Zeit, dem Stillstand nah.
Aber die Zeit war fern von jeglichem Stillstand, sie hatte sich erhoben, um die Geschehnisse aneinander gereiht in den großen Fluss des Schicksals zu bringen. Und der Lenker des großen Flusses arbeitete ihm, diesem scheuen, aber angstlosen Knaben, zu und nicht gegen ihn. Die Bestimmung, die er für ihn erwählt hatte, sollte sich auf das Schicksal der Menschen auswirken. Begegnungen nah und zugleich fern aller Schattenwelt, Begegnungen im Lichte einer höheren Wahrheit, die sich gerade auch den Ärmsten erschließen sollte.
Die Geschicke hatten es eingerichtet, dass im Nachbarlande Spaniens, auf einer Insel, die den Namen Korsika trug, einige Jahre vor Gabriel ein Junge geboren worden war, von dem die Welt früh schon zu hören bekommen sollte, und der die alten Konstellationen mit ihren großen Ungerechtigkeiten angehen und überwinden und dabei doch nur andere Ungerechtigkeiten in die neu von ihm geformte Welt setzen würde, die einen Flammensturm an Gegenwehr entfesseln sollte, der sich endlich zu seinem eigenen Schicksal auswachsen würde.
Und Gabriel, er wuchs dafür heran, in seinem Lande, an den Küsten des Mittelmeeres und des großen Ozeans, in den heißen Landschaften im Inneren, in den großen und kleinen Städten und in den viel tausenden Dörfern des Reiches seiner stolzen Väter dem Licht und der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen.
In den frühen achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts hatte die Welt nichts geahnt von dem großen Blutvergießen, welches auf sie wartete, nichts geahnt von Revolutionen und Schlachten und Befreiungskriegen, die die Menschen, egal welchen Standes, heimsuchen sollten und ihrem armseligen oder feudalen Leben vielfach ein Ende setzen würden, alle Ordnung über den Haufen werfend und ein niemals so da gewesenes Verlangen nach Freiheit gebärend. Nun schwärte in Frankreich die Revolution, das große Räderwerk hatte zu laufen begonnen. Aber in Spanien herrschte weiter die alte Zeit.
Gabriel, er würde erst seine eigene Knechtschaft überwinden müssen, ehe er mit dafür einstehen konnte, sein Vaterland aus der Knechtschaft zu entlassen.
Prüfungen, die für drei Leben ausgereicht hätten, standen an.
Erst musste er sie bestehen, um sich für die letzte große Prüfung wappnen zu können.
Ein von einem fernen Licht geleiteter abenteuerlicher Ritt auf schmalem Grat, von tiefen Abgründen umgeben.
*
Hier am Ende dieses dunklen Ganges würde er ihn finden.
»Bringt ihn nicht in die Nähe der anderen«, hatte der stets misstrauische Prior besorgt geäußert.
Es hatte selbst bei der Größe des Kartäuserklosters nicht lange gedauert, bis er den Verbleib des Jungen herausgefunden hatte.
Vor kurzem noch war der Zugang zu dem Ort nur ein dunkles, durch Spinnweben verhangenes Loch gewesen, jetzt waren die Spinnweben weg und im vorderen und hinteren Bereich des schmales Ganges, über den man zu den Zellen des früheren Gefängnisses, des Klosterkarzers, gelangte, brannten Fackeln, sichtbares Zeichen dafür, dass der Gang ständig aufgesucht wurde.
Eine Sichtbarkeit der anderen Art war, dass der Schein der Fackeln nicht den kleinsten Schatten auf der Wand, an der sie hingen, abmalte. Ein Licht der Reinheit. Ein heiliges Zeugnis, zu wem dieses Licht den Weg doch bahnte.
Doch die Schergen in ihrem weißen Habit mit dem ebenso weißen, die Schultern bedeckenden Skapulier, gingen achtlos vorbei, wie wohl die Menschen an tausenden von Wundern in ihrem Leben achtlos vorbeigehen.
Die Zellen waren weit abgelegen, und jeder Schrei in ihnen erstickte ungehört.
Früher hatte man die Zellen neben der Bestrafung auch dafür benutzt, sich der Präsenz der Brüder, die im Geiste arm geworden waren, zu entledigen. Gottes Herrlichkeit duldete im Verständnis seiner so unvollkommenen Diener keinen offenkundigen Fehler in seiner Saat. Die letzte Inanspruchnahme eine dieser Zellen lag aber einige Zeit zurück, so dass viele Novizen noch nie von ihrer Existenz gehört hatten.
Selbst jetzt wurde es fast niemandem bekannt, dass ein neuer Insasse, ein in der Heimlichkeit der Nacht dahergebrachtes Kind sich dort aufhielt. Gottes Wahrheit wurde in hohen Gesängen gepriesen, aber selbst in diesen heiligen Mauern beherrschte ein kaltes Schweigen