Eine Fehlstellung seines rechten Fußes hatte ihn darüber hinaus, was das Weltliche betraf, zum Außenseiter gemacht. Sein Weg war geebnet.
Aus kühler Berechnung, aus nichts anderem, hatte er den Weg ins Kloster gewählt und gut protegiert es mühelos verstanden, nach oben zu kommen.
Und er hatte es auch verstanden, an der Macht zu bleiben und das Amt des Priors über die vorgesehenen zwei Jahre zu behalten.
Ein eklatanter, seit Menschengedenken nicht vorgekommener Verstoß gegen eine wichtige Ordensregel der Kartäuser. Begründet mit der Besonderheit, dass just zu der Zeit, als der Wechsel anstand, niemand sonst sich für die Nachfolge im Amte hatte finden lassen und das Abweichen von der Regel auch nur vorübergehender Natur sei.
Eine die Grenze zur Lächerlichkeit überschreitende Begründung.
Tatsächlich war es nur die Folge der Einflussnahme der edlen Familie des Priors. Reliquienbeschaffung, zugesicherte, und persönliche Annehmlichkeiten für die Bruderschaft hatte die Fortführung des Amtes für den Prior leichthin möglich gemacht.
Bei der Visitation des Klosters durch andere Prioren floss der Missstand, wenn sie nicht auch käuflich waren, freilich mit in die Liste der Beanstandungen ein, aber es änderte sich nichts, weil andere, noch höher Gestellte im Orden sich kaufen ließen.
Wenigstens hätte bei der Auswahl des Stellvertreters mehr Geschick an den Tag gelegt werden können. Doch enttäuscht wurde, wer darauf gehofft hatte, ein Mann des Ausgleichs, der in der Lage gewesen wäre, der Herde ein guter Hirte zu sein, würde das Amt des Vikars anvertraut bekommen.
Und wer glaubte, dass die dunkle Zeit begrenzt war und endlich nach zwei Jahren einer anderen weichen würde, wurde erneut enttäuscht.
Ebenso der Vikar, von dem Prior hochgebracht und weiter unterstützt, klebte unter demselben Vorwand an seinem Amt. Weltliche Bestrebungen zudem hielten ihn dort sicher in der Position. Auch er war ein Spross aus adligem Geschlecht, und so wurde mit Protektion von außen die Ordensregel ebenso für ihn ausgesetzt.
Es hätte dem Kloster zum spirituellen Vorteil gereicht, wenn ein einfacher Mönch aus den Reihen der Brüder das Amt des Vikars besetzt hätte. Damit hätte die Unzulänglichkeit des hochgestochenen Priors, der allem entrückt war, abgemildert werden können. Durch die getroffene Auswahl aber zeigte sich diese Unzulänglichkeit umso mehr.
Längst schon stand die Kartause nicht mehr in religiöser Blüte und wenn man sich auch bei der Zucht der Kartäuser-Pferde anschickte, in der Weltlichkeit Beachtung zu finden, so harrte doch das Kloster immer auffälliger der Erneuerung im Geiste.
Mehr als ein Zufall war es, ohne dass Bruder Manuel darum hätte wissen können, dass Gabriel hier gefangen gehalten wurde.
Ebenso wie die Sippschaft des edlen Sion de Albanez gehörte auch die Familie des Priors zu der Linie des Herzogs von Medina Sidonia. Ein Netzwerk, ein gut funktionierendes. Alle Schaltstellen der Macht waren in dieser Provinz miteinander verknüpft.
Die Familie der Medina Sidonia war die erste, die in Spanien zu einem Herzogstitel gelangt war. Vor Hunderten von Jahren fand ihr Name zum ersten Mal Erwähnung. Durch die Reconquista war sie zu steigendem Einfluss gelangt. Der 7. Herzog von Medina Sidonia war sogar Kommandeur der berühmten Spanischen Armada gewesen, die dem Katholischen Glauben zum Sieg verhelfen wollte und gen England segelte, um dort von den seefahrenden Männern Elisabeths der Großen vernichtet zu werden.
Auch diesmal war die Kirche in Gefahr, nicht durch eine ketzerische Hure auf einem Königsthron außerhalb des Landes, sondern durch eine Ausgeburt des Satans, die als unschuldig daherkommendes Kind im Innern des Landes ihr zersetzendes Werk zu verrichten gedachte.
Wenn ihr Tun und Handeln damals auch nicht von Erfolg gekrönt gewesen war, so musste es doch diesmal sein, ehe das Land abermals verloren ging.
Muslime, aber auch Juden hatten viel zu lange über die Provinzen geherrscht, nun durften sie nicht mehr aus der Hand gegeben werden. Der Heilige Krieg war noch lange nicht gewonnen, die Inquisition, die Santa Casa, hatte noch lange nicht ihr Ziel erreicht. Es musste noch viel Blut fließen und noch viel verdorbenes Fleisch den Flammen geopfert werden.
*
»Du bist spät dran!«
Auf Bruder Manuels Gesicht spiegelte sich bei diesen Worten ein Anflug von Verärgerung. Er hatte sich jedoch so gut unter Kontrolle, dass kein Wort des Vorwurfs über seine Lippen kam. Einen prüfenden Blick aber konnte er sich nicht ersparen. Zu viel stand auf dem Spiel.
»Vergeben sie mir, Bruder! Albertos störrischer Muli hat seinen Plan zerstört.«
Alberto mühte sich zu einer Demutsgeste, aber Bruder Manuel wandte sich ab und richtete schleunig seine Schritte zu dem Ort, wo die Bruderschaft sich Erleichterung verschaffte. Alberto fuhr mit seinem Gespann hinterher und nahm von den ihn passierenden Mönchen wie immer keine Notiz. Sie lebten, auch wenn er von ihnen profitierte, in einer anderen Welt. Eine Welt, zu der er nur von Geschäfts wegen, sonst aber keinen Zugang hatte.
»Hast du auch daran gedacht, drei saubere Fässer mitzubringen?«
Bruder Manuel hielt es nicht für ausgeschlossen, dass auch weitere Dinge nicht nach Plan verliefen.
Alberto schien seine Verspätung schon vergessen zu haben.
»Sie wissen doch, Bruder: auf Alberto ist Verlass! Er hat sie von allem befreit, das die Sinne beleidigt! Sie stehen ganz hinten!«
»Gut, an die Arbeit!«
Bruder Manuel bekreuzigte sich und ließ Alberto allein.
Für gewöhnlich war die Arbeit in weniger als zwei Stunden verrichtet. Heute aber sollte Alberto sich Zeit lassen. Die Abfahrt würde erst im Dunkeln stattfinden.
Vor dem Komplet wurde zwar das Tor für die Nacht geschlossen, doch Bruder Manuel hatte vorgesorgt. Der Ort, wo Alberto seine Arbeit erledigte, war nur wenig frequentiert. Darum sorgte sein Aufenthalt im Kloster bei Anbruch der Dunkelheit auch für kein Aufsehen.
Bruder Manuel nahm am Komplet und am Abendgesang teil. Dann ging er in die Krankenstation, wo Pepa und Gabriel warteten. Pepa war dabei, sich von Pepe, ihrem Kater, zu verabschieden. Dies war mit Wehmut verbunden. Bruder Manuel gab den Kindern ein Zeichen, dass sie sich noch gedulden sollten.
Erst musste Bruder Benicio sich für die erste Schlafenszeit vor Mitternacht zurückgezogen haben. Pünktlich war er darin nicht immer. Zu groß war oft sein Wissensdurst.
Sich um einen Kranken noch kümmern zu müssen, war ein Vorwand, den er leicht hätte gebrauchen können, um sein längeres Wachsein zu begründen.
Heute aber war alle Arbeit auf der Station getan und kein Heilmittel zur Verstärkung des Blutflusses oder zur Senkung eines Fiebers noch zusammenzubrauen. Zeitig zog Bruder Benicio sich in seiner leisen Art in seine Zelle zur Nachtruhe zurück.
Bruder Manuel atmete auf. Er sah ein letztes Mal nach den Kranken. Für kurze Zeit wurde ihm schwer ums Herz. Dann ging er zu den Kindern. Sie schauten ihn erwartungsvoll an, bereit, jede Order, die Bruder Manuel erteilen würde, zu erfüllen.
Kurzes Innehalten noch einmal. – Machte er wirklich alles richtig? Abrufen aller Antworten, die er sich schon hundertmal auf diese und ähnliche Fragen gegeben hatte.
»Kommt!«
Gabriel zog die Decke vom Körper weg. Wie von ihm verlangt, war er bereits angezogen. Sogar das alte schäbige Schuhwerk hatte er schon an den Füßen.
Ein folgsamer Junge, der wusste, dass es jetzt auf jede Kleinigkeit ankam.
*
»Halt!«
Er fuhr, obwohl er im Bilde war, in seiner Zelle zusammen. Die scharfe Stimme des Wachmannes der Inquisition erschreckte sein furchtsames Gemüt. Es entstand Stimmengewirr. Eine verzerrte Stimme, die