Kurz darauf wurde eine Frau namens Hannelore Reichert interviewt. Frank hatte sie im Leben noch nicht gesehen, aber sie wurde den Zuschauern als seine ehemalige Grundschullehrerin vorgestellt.
„Schon in der ersten Klasse hatte ich Frank mehrfach dabei erwischt, wie er nach der Schule Hunde und Katzen quälte. Mit seinen Mitschülern ging er nicht anders um, sie hatten ständig unter seinen Wutanfällen und Drohungen zu leiden. Heute sehe ich ein, dass wir bei Kindern mit derartigen Tendenzen wachsam sein müssen. Dass aus dem verwirrten Jungen am Ende eine derartige Bestie werden würde, hätte ich allerdings auch nicht gedacht“, erläuterte die grauhaarige Frau, um dann betroffen in die Kamera zu schauen.
Frank schaltete den Fernseher ab und schüttelte den Kopf. „Hannelore Reichert!“, zischte er, ein verächtliches Lächeln aufsetzend. „Sie sind wirklich die Meister der Lüge. Es ist schon eine Leistung, jedes Jahr Abermillionen Menschen abzuschlachten, überall Kriege anzufangen, die ganze Welt brutal zu versklaven und das dann auch noch als „Humanität“ zu verkaufen“, brummte er angewidert, während er Bäumer anblickte. Dieser verzog ebenfalls wütend sein Gesicht und schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Sie werden uns nicht in Ruhe lassen. Diese Medienratten werden weiter hetzen und hetzen, bis es eines Tages wieder zu einem Krieg kommt. Man könnte wirklich verzweifeln. Ich bin gespannt, was dieser lügenden Brut als nächstes einfällt!“
„Was soll’s! Mögen sie an ihrem eigenen Gift ersticken. Hier in Arturs Reich können sie uns so schnell nichts und da es den gewöhnlichen Bürgern des Nationenbundes verboten ist, sich diese Feindsender anzusehen, brauchen wir uns auch nicht allzu sehr zu sorgen, dass diese Lügen ihre zersetzende Wirkung bei uns in größerem Stil entfalten können“, erklärte Kohlhaas.
Alf grinste gequält. „Wir als führende Kämpfer der Freiheitsbewegung haben also die Sondergenehmigung, uns diesen Dreck anzuschauen und uns aufzuregen …“
„So könnte man es sagen, mein Lieber!“, entgegnete Frank und musste ebenso schmunzeln.
Bäumer ging in die Küche. Kurz darauf kam er mit einigen Bratwürsten und ein paar Brötchen wieder. Die beiden Freunde aßen zu Abend und vergaßen die unschöne Fernsehsendung bald wieder.
„Matsumotos Japan ist der Stachel in unserem Fleisch, aber Tschistokjows Russland ist weit mehr. Wir können seine Macht noch immer nicht richtig einschätzen, aber was er tut, ist zutiefst beunruhigend“, murmelte der Vorsitzende des Rates der Weisen, der obersten Instanz der internationalen Logenorganisation, die die Menschheit nach wie vor in ihren Klauen hielt.
Die anderen Ratsmitglieder nickten oder musterten den Obersten der Weisen mit fragenden Blicken. Dann fuhr der Vorsitzende fort: „Ich glaube, dass Artur Tschistokjow den großen Plan ernsthaft gefährden könnte. Ja, ich traue ihm diese Kraft zu …“
„Diese Ansicht vertrete ich nicht!“, warf der Weltpräsident in die Runde, „Ich traue Tschistokjow auch viel zu, aber er ist nicht der wiedergekehrte Messias oder so etwas. Nein, die Kraft den großen Plan zu zerstören, hat er nicht. Das ist schier unmöglich.“
„Das sehe ich auch so. Dieser Mann ist ohne Zweifel gefährlich, aber in den letzten Jahrhunderten hatte niemand das Potential, uns auf Dauer aufzuhalten. Denken Sie an jene, die es versucht haben. Sie sind alle gescheitert, meine Brüder!“, bemerkte ein ergrauter Herr am Ende des großen Konferenztisches.
„Trotzdem ermahne ich den Rat und alle untergeordneten Logen zu noch größerer Wachsamkeit, was Artur Tschistokjow betrifft. Wenn wir ihn nicht vernichten, dann ist unsere Weltmacht in Gefahr“, sagte der Vorsitzende mit ernster Miene.
„Vielleicht sollten wir Russland endlich angreifen und den rebellischen Staat vernichten, denn wenn es Tschistokjow wirklich gelingen sollte, Russland und Europa wieder stark zu machen, dann könnten sich die Machverhältnisse zu unseren Ungunsten verändern“, warnte ein weiterer hoher Bruder.
Der Weltpräsident erbat das Wort und bemerkte: „Wir müssen uns an die Vorgaben des großen Plans halten und zuerst die anderen Aufgaben, die er an uns stellt, erfüllen. Zudem kann die GCF aus finanziellen Gründen derzeit nicht mit noch mehr Soldaten aufgestockt werden.
Unsere Streitkräfte sind entweder auf Indien und China konzentriert, wo die ODV-Seuche weiter wütet, oder müssen unsere Ordnung in Hunderten anderer Länder aufrechterhalten. Ein Angriff auf Russland würde es erfordern, einige Millionen GCF-Soldaten zusätzlich auszuheben und ich schlage vor, dass wir erst einmal abwarten und in Ruhe aufrüsten, um Tschistokjows Reich in den nächsten Jahren zu zerschlagen. Doch wir benötigen noch mehr Zeit, um alles gut vorbereiten zu können.“
„Was sollen wir dann tun?“, wollte einer der Weisen wissen.
„Wie wäre es, wenn wir dem russischen Souverän Frieden anbieten?“, antwortete ihm der Vorsitzende des Weltverbundes.
„Frieden?“, stieß ein Mann mit weißem Bart entgeistert aus.
„Ja, Frieden! Wir versuchen uns gut mit ihm zu stellen und machen ihm Zugeständnisse, zumindest so lange, bis wir bereit sind, den Nationenbund der Rus in einen vernichtenden Krieg zu drängen“, erklärte der Weltpräsident mit wissendem Blick.
„Aber das wird Tschistokjow doch schnell durchschauen. Er kennt unsere Pläne und weiß, wie wir denken!“, meinte ein Ratsmitglied.
Daraufhin mischte sich der Vorsitzende in die Debatte ein; er stimmte dem Vorschlag des Weltpräsidenten zu. „Natürlich ist Tschistokjow nicht naiv, aber er wird sich freuen, wenn er erst einmal in Ruhe sein Land aufbauen kann. Vielleicht wird er auch mit der Zeit nachlässiger und zögernder, was seine Rüstungsvorhaben betrifft. Ich halte es nicht für unrealistisch, dass wir ihn dazu bringen können, uns gegenüber gutmütiger und weniger wachsam zu sein. So wie die GSA sein Persönlichkeitsprofil einschätzt, will dieser Mann das Gute und träumt keineswegs vom ewigen Krieg. Geben wir ihm doch seinen ersehnten Frieden, auf dass er faul und träge wird.“
„Ja, wir töten ihn langsam – mit der Illusion des Friedens!“, zischte der Weltpräsident leise in die Runde und lächelte kalt.
Einige der anderen Ratsmitglieder ließen sich im weiteren Verlauf der Diskussion von den Plänen der beiden obersten Männer des Rates der 13 überzeugen, andere hingegen blieben nach wie vor skeptisch. Doch letztendlich hatte wie immer der Vorsitzende die Entscheidungsgewalt und dieser ordnete schließlich an, was den Logenbrüdern so fremd war, wie einem Vogel der Meeresgrund: Frieden.
So ließ die permanente Hetze der internationalen Medien gegen den Nationenbund der Rus in den folgenden drei Monaten spürbar nach, was zugleich die erste Maßnahme der neuen Friedenpolitik des Weltverbundes darstellte.
Die weltweit vernetzte Logenorganisation tat nun alles dafür, das Klima zwischen der Weltregierung und dem neuen Russland Schritt für Schritt zu entspannen. Für Mitte November des Jahres 2042 kündigte sich schließlich hoher diplomatischer Besuch im neuen Präsidentenpalast von St. Petersburg an. Kein geringerer als der Weltpräsident selbst bat Artur Tschistokjow um Friedensgespräche und dieser willigte offensichtlich dankbar ein.
Tief im Inneren wusste das Oberhaupt des Nationenbundes zwar, dass man eher einer Giftschlange als seinem baldigen Gast trauen konnte, doch Tschistokjow interpretierte dieses unerwartete Angebot trotz allem als Erfolg seiner Politik; er redete zunehmend häufiger davon, die Konflikte mit der Weltregierung in Zukunft ohne Blutvergießen klären zu können.
Thorsten Wilden, als Kenner der weltpolitischen Hintergründe, wie auch viele weitere Kabinettsmitglieder und Freunde Tschistokjows, betrachteten die neue Vorgehensweise der Weltregierung hingegen weit weniger euphorisch. Sie warnten den russischen Souverän eindringlich davor, sich von den gespaltenen Zungen seiner Feinde einwickeln zu lassen. Artur Tschistokjow betonte jedoch, dass ihm die Vorgehensweisen und Taktiken der Logenbrüder bestens bekannt wären und bat seine Mitstreiter, sich keine Sorgen zu machen. Doch wer ihn in dieser Zeit sah und reden hörte, der merkte ihm seine unübersehbare Freude