(…) nicht überzeugt (waren, C.K.) von dem gleichen Wert und der gleichen Art der Geschlechter innerhalb des Wandervogels (und um, C.K.) eine ungesunde Entstellung des Wandervogelstils (fürchteten, C.K.), der in erster Linie Selbsthilfe der Jungen (gewesen sei, C.K.). (Frobenius, 1927, S. 67 f)
Ebendies führte im selben Jahr zur Neugründung des Wandervogel Deutscher Bund (kurz DB) durch Hans Breuer 1907, der auch weibliche Mitglieder aufnahm (vgl. Schade, 1996, S. 38). Mit Hans Breuer begann ein weiterer wichtiger Abschnitt in der Geschichte der weiblichen Jugendbewegung, welcher Meinung auch andere Forscher und Forscherinnen sind (vgl. u. a. Andresen, 2003, S. 121, Frobenius, 1927, S. 66 ff). In seinem richtungsweisenden Artikel von 1911, dem „Teegespräch“, umriß jener, in welcher Weise mit der Frage des Mädchenwanderns umzugehen sei. Die Grundaussagen in seinen dortigen Ausführungen sind, daß auch für die Mädchen das Wandern „nach jeder Richtung hin allgemein förderlich“ ist, nicht aber mit den Jungen gemischt, denn die Gefahren des Zusammenwanderns sind für ihn offensichtlich: Die Mädchen würden dadurch „verbengeln und verwildern“, die „Buben verweichlichen“. Damit stellte sich die Frage des Mädchenwanderns zu dieser Zeit eher als eine Frage des Gemischtwanderns bzw. der Geschlechter. Breuer war es auch, der weitere Ansätze für das Mädchenwandern, d. h. „die rechte Praxis und das rechte Maß für dessen Wert und Art“ (1911 in Ziemer/Wolf, 1961, S. 232) gab. Eine zentrale Rolle spielte dabei die „Führerfrage“: Mädchengruppen sollten unter männlicher Führung wandern. Von jungen Lehrerinnen, so fürchtete er, würde „ein klösterlich-tantenhafter Beigeschmack in das Wanderleben“ kommen. Die Forderungen Breuers wurden bestimmt von den gängigen Vorstellungen von Weiblichkeit in der damaligen bürgerlichen Gesellschaft – zum einen „Verzicht auf Distanzmärsche“, zum anderen Aufenthalte im „Landheim“ (ebd.)29:
Da lernen sie (die Mädchen, C.K.) ein Haus, ein Heim gemütlich zu machen, seine Mauern mit schöner Harmonie und Lebensfreude zu füllen, sie lernen Häuslichkeit, Verträglichkeit, Wirtschaftlichkeit und haben auch auf täglichen Streifzügen (…) die Vorteile des Wanderns nach ihrer Art. (ebd., S. 233)
Um überhaupt in jener Bewegung weiter bestehen zu können, benötigten die Mädchengruppen die Anerkennung der Jungengruppen, was zu Beginn Anpassungen an deren Vorgaben forderte und auch zu Nachahmung des männlichen Verhaltens führte (vgl. Klönne, 2000, S. 248).
Im Laufe der Zeit bildeten sich immer mehr weibliche Wandergruppen. Die an vielen Orten entstandenen Mädchengruppen waren verschiedenen Wandervogelbünden (Wandervogel Deutscher Bund, 1907, Steglitzer Wandervogel e. V., 1910, AWV 1910) angeschlossen. Von 1911 an suchten die Mädchen Anschluß an den Jung-Wandervogel (eine Abspaltung des AWVs, der keine Erwachsenen bzw. Lehrer als Führer duldete). Bis 1912 bildeten sich in jener Vereinigung allein 12 Mädchengruppen und ein eigener Mädchenbund (vgl. u. a. Klönne, 1996, S. 255).30 Auch im 1912/13 entstandenen Einigungsbund, dem Wandervogel, Bund für deutsches Jugendwandern e. V., wurden, wie überall, zumeist in den Ortsgruppen eigene Mädchen- und Jungengruppen begründet, was aber nicht die Ablehnung jeglicher Zusammenarbeit, sprich Gemischtwandern, beinhaltete (vgl. Musial, 1985, S. 19). In jenen Gruppen entwickelten sie einen eigenen Stil (vgl. ebd.), der sich schon etwas von den Jungengruppen unterschied. So zum Beispiel in ihrer äußerlichen Erscheinung bzw. Bekleidung – dazu gehörten u. a. Faltenröcke und Kittelblusen, bis hin zum Inselkleid (vgl. 6.2). Zum einen hob sich diese Kleidung von den konventionellen Kleidervorschriften ab (Verzicht auf Korsettkleid), zum anderen war sie zum Wandern geeignet und hübsch anzusehen (vgl. Behm, 1989, S. 84). Im wesentlichen gestaltete sich die Art des Wanderns ganz anders als die der Jungen, wie der Wandervogel Fritz Klusmann beschreibt:
Auf Mädchenfahrten geht es anders her. Das weibliche Gemüt ist empfänglicher für ein beschauliches Wandern. Man läuft nicht so weit, aber man wandert mit mehr Tiefe (…). Landschaftliche Stimmungen, Sonnenuntergänge und vieles andere wofür die Buben nicht die Auffassung haben, gestalten das Mädchenwandern so unendlich reich und schön. Dann das Tanzen, die Freude am Vorlesen (…). Stets wird man bemerken, wie die Mädchen, (…), anders wandern und singen. (in Behm, 1989, S. 81)
Mit dieser persönlichen „Note“ lieferten die Mädchen und Frauen nach Frobenius auch einen „Beitrag“ zum Phänomen der deutschen Jugendbewegung:
Die Mädels haben wesentlich zur Entwicklung des neuen Lebensstils, von Gesang und Tanz, Wandervogeltracht, Landheim und Stadtnest beigetragen. Durch ihren Eintritt in die Bewegung konnte die Wandervogelkultur sich über das Vagantentum der ersten Jahre zu einer deutschen Kulturerscheinung ausbauen. (1927, S. 74)
Mit der Zunahme der weiblichen Mitglieder in der deutschen Jugendbewegung – von 500 Wanderschwestern im Jahre 1910 auf 2300 Mitglieder weiblichen Geschlechts Ende 1911 (vgl. Müller, J., 1971, S. 312) – wurde es notwendig, den Umgang der Geschlechter miteinander zu regeln. Dabei griff man auf das bereits in der Einleitung angesprochene Ideal der Kameradschaft zurück, das man aus dem 19. Jh. übernahm und speziell für die Jugendphase zuschnitt: „Kameradschaft als zeitlich begrenztes, auf Jugend bezogenes Konstrukt bei gleichzeitiger Ausklammerung von Sexualität“ (Reese, 1991, S. 9).31 Die besondere Bedeutung jener Kameradschaft, mit dem das Weiblichkeitsbild der Kameradin einherging, war jedoch nicht deren inhaltliche Gestaltung. Diese erfuhr, wie gleich noch deutlich wird, angesichts des Wandels in den Bünden unterschiedliche Interpretationen (vgl. Klönne, 2000, S. 225 ff): Es war „die grundsätzliche Zurechnung der Mädchen zur Jugend“ (Reese, 1991, S. 7), die nach Aussagen von Busse-Wilson für die Mädchen und Frauen in der Jugendbewegung zum ersten Male die Möglichkeit einer wahren „Gleichberechtigung“ (1919, S. 328) bot und für Reese erstmals die Möglichkeit der Individualität für die Mädchen darstellte (vgl. 1991, S. 8). Denn in der Konstruktion von Jugend ging man von einer formalen Gleichheit aller Menschenleben (inkl. der Geschlechter) aus (vgl. ebd.), und die junge Frau oder das Mädchen wurde entgegen der „bürgerlichen Sexualmoral“ nicht mehr als „Gattungswesen“ (Busse-Wilson, 1919, S. 328) betrachtet. Eine genauere Schilderung dieser gemischtgeschlechtlichen Unternehmungen liefert Luise Becker in einem leider undatierten Schreiben, veröffentlicht in Köhler (1987d, S. 269):
Einige gemeinsame Touren mit dem brüderlichen Alt-Wandervogel haben ein heiteres, frohes Zusammensein ohne Flirt und Koketterie, einen echten freundschaftlichen Verkehr der Knaben und Mädchen (…) ergeben (…).
Ab 1913 ging der Wandervogel in eine neue Phase der Jugendbewegung über, die vornehmlich durch die Freideutsche Jugend32 geprägt war. Sie umfaßte 13 jugendbewegte Vereinigungen, die sich im Rahmen des berühmten Treffens auf dem Hohen Meißner 1913 zusammengeschlossen hatten. Die hier vorliegende „Meißner-Formel“, auf die sich die verschiedenen bis zu dieser Zeit gegründeten Jugendgruppen einigten (Wandervögel, Akademische Freischar, etc.), brachte aber kein Programm, sondern eher ein Lebensgefühl zum Ausdruck:
Die freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung vor eigener Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. (Zit. nach Flitner/Kudritzki, 1961, S. 277 f)
Die Freideutsche Jugend zeichnete sich durch ein liberales und offenes Gedankengut aus. Sie übte praktische Kritik an den bürgerlichen Verhältnissen und Konventionen, u. a. auch an den Beziehungen der Geschlechter (vgl. Klönne, 2000, S. 93). Das führte dazu, daß, trotz der Tatsache, daß ein Teil der nun älter gewordenen Wandervögel eindeutig erotische Beziehungen zueinander pflegte, die asexuelle Kameradschaft in dieser Phase weiterhin als Konzept bzw. Ideal für den Umgang der Geschlechter erhalten blieb (vgl. Musial, 1982, S. 156).
Wie Bias-Engels meint, hätten die folgenden Worte aus der Meißnerformel: „aus eigener Bestimmung vor eigener Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit“ ihr Leben zu gestalten, die Mädchen im Wandervogel zur Zeit der Freideutschen Jugend angesprochen und 1914 zur Begründung des ersten selbständigen Mädchenbundes, Deutscher Mädchen Wanderbund, in Hattingen geführt (vgl. 1985, S. 111 f). Dort entstanden innerhalb von fünf Jahren 53 Ortsgruppen (vgl. Musial, 1985, S. 28). Inhaltlich ging es den Begründerinnen darum „(…) etwas Neues, Eigenes zu schaffen, einen Bund, in dem die weibliche Eigenart zum Wachsen und Ausreifen kommen kann“ (Bias-Engels, 1985, S. 110).