Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung im Spiegel der historischen Forschung. Christiane Kliemannel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christiane Kliemannel
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783944180427
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eine entscheidende Rolle, also die Beschränkung der Frau bzw. des Mädchens auf ihre reproduktiven Fähigkeiten und ihre Funktion als Gegenpol zum bürgerlichen Mann (vgl. ebd., S. 10). Hier kommt auch der Gedanke der Geschlechterpolarität mit ins Spiel.

       Zum Aufbau der Arbeit

      Einleitend beschäftige ich mich mit dem Rezeptionsgegenstand. In diesem Kontext werde ich zunächst den Begriff der Jugendbewegung erläutern. Im Anschluß daran werde ich einen Einblick in den historischen Rahmen geben, welcher zur Begründung jener Bewegung führte. Zudem soll auch das frühere Gesellschaftsbild von Jugend erörtert werden, da Jugend als eigenständige Lebensphase mit Rechten und Verpflichtungen als eine Erscheinung des neunzehnten Jahrhunderts betrachtet wurde. Demnach geht es um die Besonderheiten, die dieser gesellschaftlichen bzw. sozialen Konstruktion von Jugend zugrunde liegen, sowie um ihr Selbstverständnis und die Anforderungen, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts an sie gestellt wurden. Daneben befaßt sich das erste Kapitel auch mit der Entwicklung der deutschen Jugendbewegung bis zum Eintritt der Mädchen. Ziel ist es, eine kurze Einführung in das Phänomen der Jugendbewegung in Deutschland zu geben, die zunächst von der männlichen Jugend dominiert worden ist. Das zweite Kapitel beschäftigt sich konkret mit den Mädchen und jungen Frauen in der deutschen Jugendbewegung und soll unter Berücksichtigung der folgenden Fragen auf den Schwerpunkt der Arbeit hinführen: „Wie sahen die weiblichen Lebensperspektiven aus? Seit wann und warum wurden Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung aktiv? Wie wurde innerhalb der Jugendbewegung auf die Mädchen reagiert?“ Um die Mädchen in ihrem Dasein in der Jugendbewegung analysieren zu können, wird unter anderem in dieser Einführung die Struktur und das Erscheinungsbild sowie die besondere Anziehungskraft der Jugendbewegung aufzuzeigen sein. Des weiteren geht es mir vor allem darum, Unterschiede in den damaligen Gesellschaftsbildern bzw. sozialen Konstruktionen von Mädchen und jungen Frauen im Vergleich mit den Jungen, d. h. der Geschlechter, hervorzuheben. Denn die Geschichte der Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung ist immer auch Geschlechtergeschichte gewesen, wie in dieser Arbeit noch deutlich werden wird. Diese einführenden Kapitel dienen dazu, die möglicherweise divergierenden Perspektiven diverser ForscherInnen auf die weiblich „Jugendbewegten“ über die Jahrzehnte der historischen Forschung hinweg besser zu verstehen.

      Im Anschluß daran werde ich mich der Betrachtung der Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung in der historischen Forschung zuwenden. Dabei werden chronologische und systematische Aspekte miteinander verbunden, da einige der Schriften, die ich untersucht habe, auf die wissenschaftliche Betrachtungsweise der weiblichen Jugendbewegung und zur Zeit der historischen Jugendbewegung auf die weiblich Jugendbewegten selbst Einfluß hatten (vgl. Klönne, 1996, S. 248). Zum besseren Verständnis werde ich in die Rezeptionsphasen einführen und die Auswahl der von mir untersuchten Studien begründen. Beginnen werde ich im dritten Kapitel mit jenen Untersuchungen zur deutschen Jugendbewegung, deren Fokus auf den weiblichen Anhängerinnen liegt und die direkt aus der „jugendbewegten“ Zeit (1912 - 1933) stammen. Diese Studien werden auch in den nachfolgenden Betrachtungen häufig diskutiert werden. Bedeutsam sind die zu beleuchtenden Studien insofern, da sie in der Erlebniszeit der Jugendbewegung entstanden sind und damit eine unmittelbare Nähe zur Bewegung aufweisen. Dadurch können bestimmte Denkmuster der Zeit rekonstruiert werden, und mögliche Ähnlichkeiten bzw. Differenzen in den zeitlich darauf folgenden Untersuchungen werden besser ersichtlich. Hieran folgt eine Diskussion der nationalsozialistischen Deutungsversuche der deutschen Jugendbewegung. In diesen hat man versucht, die Ideen der Jugendbewegung, vor allem die der Bündischen Phase, für die nationalsozialistischen Ideologien zu vereinnahmen, auch in Bezug auf das Geschlechterverhältnis. An dieser Stelle lassen sich auch gedankliche Verbindungen zu den Schriften aus der jugendbewegten Zeit aufweisen.

      In den nachfolgenden Studien zur Jugendbewegung ist versucht worden, einen Umgang mit dieser möglichen Verbindung zwischen Jugendbewegung und Nationalsozialismus zu finden. Vielfach wurde diese auch intensiv in Form einer Art „Vergangenheitsbewältigung“ diskutiert. Ob sich das auch auf die Betrachtung der jugendbewegten Mädchen und Frauen ausgewirkt hat, soll u. a. im ersten Abschnitt des fünften Kapitels untersucht werden. Weitere Analysepunkte des fünften Kapitels sind dann vorrangig die historischen Betrachtungen der deutschen Jugendbewegung nach 1945, d. h. die Chroniken bzw. offizielle Standardwerke, historische Bestandsaufnahmen der deutschen Jugendbewegung, aber auch, wie in einem weiteren Abschnitt deutlich wird, wichtige (jugend-)soziologische und -theoretische Studien. Auch die ersten Untersuchungen der weiblichen Jugendbewegung nach 1945 dürfen in dieser historischen Analyse nicht unbeachtet bleiben. Dabei geht es sowohl um eine soziologische Betrachtung (Mancke/​Wolf, 1961) als auch um ihre historische Bestandsaufnahme (Mancke, 1961), die im letzten Abschnitt des fünften Kapitels vorgestellt werden. Diese Studien sollen den Übergang zu den differenzierteren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen bilden, die ab den achtziger Jahren des 20. Jh. einsetzten.

      Die Studien vor allem junger ForscherInnen, die dieses Thema scheinbar zum ersten Mal ausführlich ins Zentrum der historischen Forschung zur deutschen Jugendbewegung gerückt haben, möchte ich im sechsten und letzten Kapitel dieser Arbeit vorstellen. Kennzeichnend für diese Untersuchungen ist, daß ihr Arbeitsschwerpunkt auf die Geschlechterforschung gelegt wurde, die sich in diesem Zeitraum besonders etabliert hatte. Hierdurch wurden die Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung in einem vermutlich vollkommen anderen bzw. neuen Licht betrachtet. Dies läßt vermuten, daß wir hier im Vergleich mit bisherigen Studien gänzlich neue Perspektiven auf die weiblichen Jugendbewegten zu erwarten haben, vor allem für den Bereich der Geschlechterverhältnisse, Geschlechter- bzw. Weiblichkeitskonstruktionen, mit dem sich die Geschlechterforschung schwerpunktmäßig befaßt.

I Rezeptionsgegenstand

      Um das Phänomen Jugendbewegung angemessen verstehen zu können, gilt es zunächst, einige allgemeine Hinweise zum Begriff zu liefern. Vermutet wird, daß die Bezeichnung Jugendbewegung durch Hans Blühers Werk „Der Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung“ populär gemacht wurde (vgl. Schröder, 1996, S. 39). Im Prinzip ging diese Bezeichnung aus dem „Wandervogel – Ausschuß für Schülerfahrten“12 (AfS) (vgl. 1.2.1) hervor und umfaßte im wesentlichen den Wandervogel (Kaiserzeit), die Freideutsche Jugend und Bündische Jugend (Weimarer Republik) (vgl. Schneider, 1990, S. 6). Ein Deutungsversuch von Viktor Engelhardt lautet: „Jugendbewegung im allgemeinsten Sinne des Wortes bezeichnet eine geistige Bewegung, in der junge Menschen Träger neuer, meist gegen die bestehende Ordnung gerichteter Gedanken sind“ (1927, S. 1).

      Im groben stimmt diese Begriffsbestimmung überein mit dem gängigen Verständnis von sozialen Bewegungen, definiert als „Prozeß des Protests gegen bestehende (soziale) Verhältnisse“ (Rammstedt, 1978 in Thiel, 1999, S. 868) sowie mit der Intention gesellschaftlicher Veränderung (Jugend als Träger neuer Gedanken, C.K.).13 Sozial deshalb, weil sie – im wesentlich getragen von Gymnasiasten – sich gegen die soziale Ordnung wandte, „gegen einengende, konventionelle Autoritäten (Eltern und Schule, C.K.) und eine mechanische Großstadtkultur“. Stattdessen sah sie „im Jugendlichensein selbst den Ausdruck positiv besetzter Werte wie Gemeinschaft, Einfachheit, Emotionalität und Vitalität (…) und (brachte, C.K.) diese im gemeinsamen Wandern (…) mit Lagerleben, Spielen und Musik zum Ausdruck“ (Raschke, 1988, S. 47). Die Jugendlichen fanden sich in den entsprechenden Wandergruppen – den außerschulischen Organisationen – zusammen, die von einem kaum älteren Führer geleitet wurden, um nach „einer Verwirklichung jugendlicher Verkehrsformen neben und in Abschließung von industriellen und politischen Entwicklungen“ (ebd.) zu suchen. Das hatte den Erfolg, daß Jugend als Lebensphase weitere Anerkennung fand und die jugendbewegten Ideale in gewandelter Form in die verschiedensten Berufs- und Lebensbereiche eingebracht wurden (vgl. ebd., S. 49 f). Damit beinhaltet die Jugendbewegung fast alle wesentlichen Merkmale sozialer Bewegungen: Kollektive Aktionen (Wandern) von individuellen, aber auch korporativen Akteuren (Führer), die der Durchsetzung gemeinsam gesetzter Ziele (Gemeinschaft, Einfachheit, Emotionalität) dienen. Die Akteure sind untereinander vernetzt und haben eine Gruppe (Wandergruppe) oder eine kollektive Identität (gemeinsames Wandern mit dem dazugehörigen Lagerleben, Spielen und Musik). Die kollektiven Aktionen sind auf Dauer gestellt (weitere Anerkennung